Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter (German Edition)
eingefallen, dass ich am Bett einer Sterbenden saß. Sterben passte einfach nicht zu meiner Tante Hilde. Dieser Meinung war auch sie selbst. Als sie ins Krankenhaus gebracht werden sollte, wurde mir erzählt, krallte sie sich voller Wut in die Wand neben ihrem Bett. Zehn Minuten später war sie tot.
Wenn man ein Kind hat, weiß man erst, was man verliert mit jemandem, der einen ohne Bedingungen liebt. Als meine Eltern starben, wusste ich das noch nicht. Als meine Tante starb, wusste ich es.
22. Dezember
Die letzten Hormone verlassen nun endgültig und scharenweise das sinkende Schiff.
Ich habe das Gefühl, als würde mit der Muttermilch mein Lebensmut versiegen.
Ich sitze beim Rückbildungsyoga auf der Matte, und als uns die Kursleiterin fragt, wie es uns geht, breche ich auf der Stelle und ohne Vorwarnung in Tränen aus.
Das kommt allen hier irgendwie bekannt vor. Vier der Frauen haben etwas ältere Kinder und das Tal der Tränen schon hinter sich.
Kursteilnehmerin Michaela erzählt, dass ihr der schwere Start ihres Sohnes – er kam zwei Monate zu früh zur Welt – erst beim Abstillen mit aller Macht ins Bewusstsein drang. Sie besuchte eine Therapeutin, um ihren Kummer und ihre nachträglichen Ängste in den Griff zu kriegen.
Sabine kannte die Depressionsphase vom ersten ihrer beiden Söhne. «Ich hatte keine Ahnung, was mit mir geschah. Ich stürzte in einen dunklen Abgrund und schämte mich vor meinem Mann und vor meinem Kind für meinen Kummer und für meine schlechte Laune. Mein Frauenarzt wusste nicht, warum ich diese schrecklichen Ängste hatte. Diese Ärzte kennen ja nur Schwangere und frisch entbundene Frauen. Die kennen eine postnatale Depression. Aber dass es nach ein paar Monaten noch mal so richtig tief in den Keller gehen kann, das wissen die nicht. Bei meinem zweiten Kind war ich nicht willens, das Ganze noch mal durchzustehen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob meine Ehe das überlebt hätte. Beim ersten Mal war es schon echt knapp. Bei den ersten Anzeichen des Abstillkummers habe ich mir diesmal ein Antidepressivum verschreiben lassen. Das nehme ich jetzt seit zwei Monaten. In einem Monat werde ich es langsam absetzen. Ich bin guter Dinge, und meine Ängste und Sorgen sind beherrschbar. Ich würde nie wieder ohne Hilfe durch dieses Tal gehen. Die Gefahr, dabei einen Schaden anzurichten, der nicht wiedergutzumachen ist, wäre mir viel zu groß.»
Noch am selben Tag rufe ich meine großartige Heilpraktikerin an. Sie kennt das Phänomen und verschreibt mir hochdosiertes Johanniskraut. Rein pflanzlich, aber nicht zu unterschätzen.
Wenn das nach drei Wochen nicht wirkt, solle ich bloß keine Hemmungen haben, mir ebenfalls ein Antidepressivum oder einen Angstlöser verschreiben zu lassen.
Ich bin froh und dankbar, dass ich nicht allein bin.
Glück ist nicht Pflicht. Kummer ist erlaubt. Da geht es mir doch gleich besser.
«Alles fügt sich und erfüllt sich,
musst es nur erwarten können
und dem Werden deines Glückes
Jahr und Felder reichlich gönnen.»
CHRISTIAN MORGENSTERN
Erster Weihnachtstag um 0 Uhr 50
M eine Familie schläft.
Ich sitze im Wohnzimmer neben dem reichlich geschmückten Tannenbaum. Er ist wieder zu groß. Und ich war noch nie ein Freund spärlicher Dekoration.
Dieses Weihnachten war so überschattet und so glücksbeschienen wie nie ein Weihnachten zuvor.
Die Mixtur aus tiefer Trauer, fassungsloser Dankbarkeit, Johanniskraut und einer Flasche Champagner, getrunken auf das Wohl unseres Sohnes und auf die Himmelfahrt unserer Tante, führt in mir zu einer trägen und traurigen, achselzuckenden Freundlichkeit der Welt gegenüber. Ich nehm noch ein Schlückchen.
Und ich weine friedlich und feierlich vor mich hin.
Ich gönne mir noch eine Handvoll Kekse, die teuren, gekauft natürlich. Wie in jedem Jahr hatte ich mir fest vorgenommen, Plätzchen zu backen, sie in selbstdekorierten Tütchen hübsch einzuwickeln und an die Nachbarn, die Briefträgerin und die Männer von der Müllabfuhr zu verteilen.
Und wie in jedem Jahr habe ich es wieder nicht getan.
Ich habe auch keine Strohsterne gebastelt, keine bezaubernden Kunstschneebilder an die Fenster gesprüht, keinen Stollen gebacken und den Adventskranz nicht selbst geflochten.
Irgendwie hatte ich gehofft, dass man mit einem Kind das Bastel- und das Back- und das Mehrgängige-Menüs-aus-dem-Hut-zaubern-Gen gleich frei Haus mitgeliefert bekommt. Das ist aber nicht so.
Nicht nur die Kekse, auch den Rotkohl habe ich
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