Unter dem Räubermond
sie Angst. An der Reling zusammengedrängt, schauten die Räuber in gespanntem Schweigen zu, wie sich Ar-Scharlachi vorsichtig, Schritt für Schritt den nassen, weißen Spitzenmustern des Schaums auf dem feuchten Sand näherte. Sie erwarteten wohl bebend, gleich werde sich aus dem Meer ihrem tollkühnen Anführer eine Knochenhand entgegenstrecken (stark, glitschig) und …
Sie warteten vergebens. Ar-Scharlachi bückte sich, berührte mit den Fingerspitzen den feuchten Sand, der von irgendwelchen regenbogenfarbenen Schlieren bedeckt war, die Schaumflocken … Wasser … einfach viel Wasser … Er richtete sich auf, schaute sich um. Nein. Natürlich nicht. Aregug hatte recht und auch unrecht. Er hätte das nie zu sagen gewagt, wenn er auch nur einmal das Meer gesehen hätte.
Der Wind hatte gedreht, er wehte jetzt zum Land hin, verhängte den Weg, auf dem der Samum eben noch gekommen war, mit Rauch und legte irgendwelche Bauten frei, die aus dem Wasser ragten, umringt von zum Ufer treibenden Flecken von Flammen. Schwarz ragten mehrere Reihen von Pfählen, die weit ins Meer hinausreichten, und dann war da noch ein auf der Seite liegender Rumpf mit Masten, aber ganz ohne Räder. Sollte das etwa …? Ja. Ein Schiff. Ein Meerschiff …
Die nächste Welle schlug besonders laut ans Ufer, und im nächsten Augenblick fühlte Ar-Scharlachi entsetzt, dass seine Füße bis an die Waden im kalten Wasser standen. Hinter ihm kreischte Aliyat. Auf dem Samum stöhnten sie. Schließlich wich das Wasser wieder zurück. Ar-Scharlachi ging ein paar Schritte rückwärts, blinzelte sprachlos, dann wartete er einen Herzschlag lang und betrachtete besorgt den nassen Rand des Kittels. Auf dem weißen Stoff waren irgendwelche schwarzen Schlieren. Wieder Erdöl?
»Denn das Wasser im Meer ist klar wie die Träne des Gerechten …«, zitierte er spöttisch. Obwohl … Vielleicht war es klar gewesen, ehe die »Bemalten« hier aufgetaucht waren …
Er trat noch einen Schritt zurück und drehte sich um.
»Wir fahren weiter«, sagte er knapp, während er auf die erstarrte Aliyat zuging. »Hier können wir kein Wasser nehmen. Es ist schmutzig …«
Sie schöpften das Wasser mit Ledereimern und gaben es in einer Menschenkette weiter. Natürlich schöpfte Ar-Scharlachi. Er hatte die Schuhe ausgezogen, das Gewand hochgerafft und war bis zu den Knien ins Wasser gegangen. Wenn er einen Eimer gefüllt hatte, gab er ihn an Aliyat weiter, die bleich im Flachen stand und immer noch zusammenzuckte, wenn irgendeine weitreichende Welle ihr die Waden netzte. Ard-Gew – er stand als Dritter in der Kette – sprang in solchen Fällen zurück und ließ dabei oft den Eimer fallen; für Aliyat hatte es keinen Zweck zurückzuspringen.
Außer ihr und natürlich Ar-Scharlachi hatte es niemand gewagt, einen Fuß ins Wasser zu setzen. Die Eimer wurden mit allergrößter Vorsicht von Hand zu Hand weitergereicht, um nur ja keine Spritzer abzubekommen – als ob das möglich wäre! Bald schon schüttete sich jemand Wasser auf die Hand, und sie mussten die Arbeit unterbrechen, weil der Leidtragende die Augen verdrehte, nach Luft schnappte und entsetzt die nasse Hand schüttelte. Wenigstens schrie er nicht – ihm blieb die Luft weg.
»Das wär’s dann«, sagte man ihm grinsend. »Deine Pfote ist jetzt unsterblich. Du selber stirbst, aber sie wird munter weiterleben … auf den Fingerchen herumlaufen …«
Die Witzbolde blickten allerdings besorgt drein. Dennoch forderte die Arbeit ihren Tribut. Die Spritzer fürchtete man immer weniger, und gegen Abend schwenkten sie die Eimer schon mit solchem Elan, dass keiner einen trockenen Faden am Leibe hatte.
»Irgendwie bitter …«, murmelten sie, wenn sie Tropfen von den Lippen leckten. »Und salzig … Kein Wunder, dass hier nichts wächst …«
Bei Sonnenuntergang war das Fass im Laderaum randvoll. Es wurde mit einem Deckel verschlossen und der Rand sorgfältig mit Pech abgedichtet. Sie konnten sich auf den Rückweg machen, aber Ar-Scharlachi zog es vor, der Mannschaft endlich Ruhe zu gönnen. Schlaf fand jedoch niemand. Von einer doppelten Ration Wein erwärmt, kamen die Räuber an Deck, einige stiegen sogar die Strickleiter hinunter und gingen auf dem Sand ums Schiff. Doch das waren wenige, gar zu beängstigend war es nachts am Meer. Der böse Räubermond schien und brach sich im Wasser, fast sah es aus, als wolle er ans Ufer kriechen.
»Ich hab’s verstanden«, teilte düster jemand mit, anscheinend der Klügste.
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