Unter dem Räubermond
jemandem etwas anzubieten, goss er die Schale bis zum Rand voll, hob den unteren Rand des Schleiers an und trank in drei Zügen aus. Er öffnete die Finger, und die Schale fiel mit der Kante auf den Teppich.
»Wir teilen diese sechshunderttausend und verschwinden«, sagte er heiser. »Solange es nicht zu spät ist …«
In der Kajüte wurde es sehr still. Das Fauchen der Flammen und Knacken der Balken wurde so laut, dass man meinen konnte, der Bug des Samum habe schon Feuer gefangen.
»Was?!«, hauchte Lako kaum hörbar. »Scharlach! Komm zu dir! Die schinden doch einfach Zeit! Drohe ihnen, in die Stadt einzufallen!«
»Einfach den Richter an Bord kommen lassen und fertig!«, sagte mit empörter Bassstimme Mirgo, der wie ein Felsbrocken breitschultrige Räuber, der sich auch bei der Arbeit nicht von dem silbernen Skorpion auf der rechten Schulter trennte. »Man sengt ihm die Fersen ein paarmal an, und schon kommt das Lösegeld!«
»Was soll denn das?!«, fauchte Oriysa, dessen Gesicht schrecklich hohlwangig wirkte, und beugte sich zu Ar-Scharlachi vor. »Wie kann man so eine Gelegenheit verstreichen lassen? Erst nehmen wir das Lösegeld, und dann fallen wir in die Stadt ein!«
Gleich werden sie mich umbringen, dachte Ar-Scharlachi hoffnungslos. Und das habe ich wohl verdient …
»Gut«, sagte er gleichgültig, fast ohne die eigene Stimme zu hören. »Macht, was ihr wollt … fallt in die Stadt ein, sengt Fersen, verlangt den Rest des Lösegeldes … Aber ich nehme meinen Anteil und fahre ab …«
»Was heißt, du fährst ab?«, schrie Lako und sprang auf. »Du kannst hier nicht weg! Du hast uns hergebracht!«
»Ich habe euch hergebracht«, erwiderte ihm Ar-Scharlachi mit dem Gleichmut jemandes, der dem Tod entgegensieht, »aber ihr seid mit meinen Befehlen nicht einverstanden … Ich nehme meinen Anteil und fahre weg …«
»Hast du es mit der Angst zu tun gekriegt?«, erkundigte sich Mirgo in beleidigend sanftem Tonfall.
Ar-Scharlachi zwang sich, die Lider zu heben, und schaute ihm in die Augen. »Ja«, sagte er. »Ich habe es mit der Angst zu tun gekriegt …«
Die Anführer waren verwirrt. Ar-Scharlachis Verhalten jagte ihnen Furcht ein, doch die Verlockung eines unerhörten Gewinns war doch zu verlockend und faszinierend.
»Schön«, warf Lako hin. »Wie du willst. Nimm deinen Anteil und verschwinde. Und nimm noch etwas von meinem Anteil – für den Weißen Skorpion . Jetzt gehört er mir ganz!«
Lako machte abrupt kehrt und ging hinaus. Die anderen folgten ihm. Mit einem derart bleichen Gesicht, dass es sich kaum vom Schleier unterschied, wandte sich Aliyat zu Ar-Scharlachi um, wollte etwas sagen, winkte aber nur ab und ging ebenfalls hinaus. Er hörte, wie sie dort oben wütend Befehle gab, wie viele Säcke an Bord bleiben und wie viele ausgeladen werden sollten. Ar-Scharlachi packte den Krug, riss sich den Schleier ab und trank den Rest des Weins direkt aus dem Krug. Unten heulten die Flammen, und Menschen schrien schrecklich. Anscheinend befahl Oriysa, sich zum Einfall in die Stadt bereit zu machen …
Der Samum fuhr schon unter vollen Segeln von Sibra fort, als Aliyat endlich wieder in die Kajüte des Karawanenführers kam. Ar-Scharlachi saß in sich zusammengesunken da und drehte die leere Schale in den Fingern, schaute gedankenlos den Rand an.
»Die Leute sind unzufrieden«, sagte Aliyat.
Ar-Scharlachi hob den Kopf und blickte die Eintretende verständnislos an. Mechanisch rückte er den Schleier zurecht.
»Was …?«
»Die Leute sind unzufrieden, dass du sie nicht in die Stadt gelassen hast.«
Eine Zeit lang saß Ar-Scharlachi reglos da. Dann stand er schwankend auf und starrte Aliyat wütend an. »Unzufrieden?«, rief er mit durchdringender, fremd klingender Stimme aus und warf mit aller Kraft ausholend die Schale gegen die Wand. Sie zersprang in Stücke, die Scherben schurrten kurz an Wänden und Decke entlang. »Wer ist unzufrieden?«
Er stieß Aliyat zurück und stürmte zur Tür, murmelte: »Hat man euch also nicht metzeln lassen … nicht brennen … rauben … Unzufrieden seid ihr …«
Als sie den bleichen, rasenden Anführer vor sich sahen, wichen die auf Deck stehenden Räuber zurück, bildeten um ihn eine Art leeres Hufeisen.
»Wer ist unzufrieden?«, schrie Ar-Scharlachi noch immer mit der fremdartigen, durchdringenden Stimme. »Wer unzufrieden ist, braucht nicht zu bleiben …! In die Stadt wollt ihr? Gleich werdet ihr in die Stadt gehen!«
»Staub zum linken
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