Unter dem Räubermond
wurden auf den Straßen begrüßt, auf einen Krug Wein eingeladen – und ausgefragt, ausgefragt, ausgefragt … Die Geschichte vom Überfall der schwarzen Wilden auf die Räuberkarawane wurde alsbald mit furchterregenden Einzelheiten ausgeschmückt, und Scharlach erwarb in Turkla den unstrittigen Ruf eines Zauberers. Nicht umsonst hatte er ja unmittelbar vor der Fahrt gegen Sibra die Postgaleere über einen Aufkäufer an sich selbst verkauft! Diese Tat versetzte alle in starres Staunen, so unverständlich war sie … Man muss allerdings anmerken, dass die Fama fast alle berühmten Räuber (wie zum Beispiel Anarbi) zu Zauberern oder jedenfalls für verzaubert erklärte. Sodass daran nichts Verwunderliches war …
Ar-Scharlachi selbst freilich war über seinen plötzlichen Ruhm heftig erschrocken. Zudem trafen aus Sibra wieder alarmierende Nachrichten ein. Dort erwartete man jeden Tag den Zorn des Herrschers und zerbrach sich die Köpfe, was man mit dem Befehlshaber der Karawane machen sollte: entweder für die Rückkehr ohne Befehl verbrennen oder für die Rettung der Stadt vor den Räubern mit Ehren überhäufen. Eins war klar: Harwa würde diese Angelegenheit nicht auf sich beruhen lassen …
Gleich nach der Ankunft, abends, hatte sich ein Stadtdiener an Bord des Samum eingefunden und erklärt, Aïlscha, der linke Treiber Turklas, hoffe Scharlach am folgenden Morgen bei sich im Palast zu treffen. Das war natürlich eine unerhörte Ehre, doch eingedenk seiner übermäßig regsamen Zunge wagte Ar-Scharlachi nicht, allein zu gehen, und bat sich aus, in Begleitung zweier zuverlässiger Leute kommen zu dürfen, vor denen er keine Geheimnisse habe. Lieber hätte er natürlich nur Aliyat mitgenommen, aber er durfte Lako nicht vor den Kopf stoßen.
Am späten Abend brachte der Diener die Antwort, dass Aïlscha nichts dagegen habe, und am Morgen begaben sich alle drei zu dem großen, luftigen Palast, der so stark verziert war, dass die Wände praktisch verschwanden. Glatte Oberflächen hatte das Gebäude nicht.
Der linke Treiber Turklas wirkte verschlagen, gebrechlich, und wie alle wohlhabenden Bürger Turklas bevorzugte er die weite, prächtige Kleidung aus Kimir. Traditionell weiß war nur der Schleier, der das Gesicht verdeckte. Spöttisch hochgezogene Brauen, eine ständig gerunzelte Stirn und Augen, die zwei schwarzen Kieseln glichen. Der Treiber thronte auf Kissen in der Mitte eines Teppichs von Schwarz und leuchtendem Rot, der als Einfassung für ein rötlich graues Stück Filz diente, welches aus der Unterwolle des Kamels namens Sibra geschla gen worden war. Den krummen, in Gold gefassten Stab, das Zeichen seiner Gewalt als Treiber, hielt Aïlscha auf den Knien.
Es wurde Wein gereicht. Die Gäste nippten ohne Furcht daran. Anders als der Richter – der ehrwürdige Ar-Maura –, hatte der linke Treiber Aïlscha niemals in Harwa gelernt. In Kimir aber war es nicht üblich, einen Feind mit Wein zu vergiften. In Kimir war es üblich zu erwürgen, zu erstechen – was immer man will, aber nicht zu vergiften. Eine solche Art der Auseinandersetzung galt als niedrig und gemein.
Man tauschte Höflichkeiten aus, wobei der höfliche Gastgeber kein einziges Mal den Überfall Überfall und die Beute Beute nannte. Er bevorzugte die weitaus schöneren Wörter »Heldentat« und »Lohn der Heldentat«, sprach sie allerdings mit leiser Ironie aus.
»Ich will jedoch nicht verhehlen«, fuhr er fort, nachdem er Scharlachs Heldenmut gebührend gewürdigt hatte, und auf seiner runzligen Stirn spiegelte sich Bedauern, »dass eure Taten längst nicht bei allen Begeisterung ausgelöst haben. Der Richter von Sibra, der ehrwürdige Ard-Nur (übrigens ein alter Freund von mir), teilt mit, dass der Herrscher diesbezüglich schon eine Entscheidung getroffen hat. Harwa ist bereit, alle unsere Privilegien zu bestätigen. Doch dafür stellt es uns eine ziemlich harte Bedingung, nämlich: Scharlach auszuliefern.«
Der Treiber machte eine Pause. Man hörte, wie der von einem Luftzug bewegte Seidenvorhang an den kunstvoll geschmiedeten Fenstergittern raschelte.
»Nur mich?«, erkundigte sich Ar-Scharlachi finster.
»Ja. Und das ist ziemlich erstaunlich. Für gewöhnlich wird die Auslieferung sämtlicher … äh … Wagehälse verlangt.«
»Das heißt, die Entscheidung ist noch nicht eingetroffen?«, präzisierte Lako.
»Nein. Aber das Pergament liegt schon in Sibra. Natürlich wird der ehrwürdige Ard-Nur, der meine heikle Lage versteht,
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