Unter dem Safranmond
vergangen seit meinem letzten Brief, während von Dir immer so liebe und aufmunternde Zeilen kommen! Und die kann ich auch wahrlich gut brauchen.
Gewiss, ich gebe Dir recht: Wir haben an den Ufern der Alma gesiegt, natürlich müsste uns das Auftrieb geben. Aber der Preis dafür war hoch! So viele Verwundete – und wir hatten keine Bandagen, keine Schienen, kein Chloroform, kein Morphium und keinen Platz, sodass wir die armen Teufel auf der nackten Erde lagern mussten oder auf dungverklebtem Stroh in den Ställen der nahegelegenen Gehöfte. Ich habe Gliedmaßen ohne Anästhesie amputiert, während meine Patienten auf umgekehrten Kübeln saßen oder auf alten, ausgehängten Türen lagen – im Mondschein habe ich operiert, weil es keine Kerzen oder Lampen gab. Und weitere eintausend Männer mussten wir mit Cholera in das Lazarett von Scutari, nahe Konstantinopel, schicken. Wunder dich nicht, wenn du darüber nichts in den Zeitungen lesen wirst – natürlich ist es unmöglich zuzugeben, dass unsere glorreiche Armee in Wirklichkeit aus einem Haufen von Amateuren und Stümpern besteht! Es ist erschreckend, wie schlecht die anderen Assistenzärzte ausgebildet sind. Jungspunde noch, mit gerade mal anderthalb Jahren Berufserfahrung nach ihrem Studium. Und auch wenn das Ministerium bevorzugt solche einberufen hat, die eine gute Chirurgenausbildung vorweisen können, haben die Jungs so gut wie keine Ahnung, was im Ernstfall zu tun ist. Ich nehme mal an, die entsprechende Einstellungsprüfung war ein reiner Witz, so ist zumindest mein Eindruck.
Offen gestanden glaube ich nicht mehr daran, dass wir diesen Krieg so schnell und mühelos gewinnen können, wie allenthalben behauptet wird. Noch ist es hier warm, um nicht zu sagen heiß – aber sollten wir noch bei Wintereinbruch hier sein, dann gnade uns Gott …
In aller Eile (weil kurz vor der nächsten Zwölf-Stunden-Schicht), aber nicht minder herzlich eine feste Umarmung
Deines Bruders Jonathan
Sebastopol, Anfang (?) November 1854
Mein Schwesterherz,
ich kann mich nicht einmal erinnern, welches Datum wir heute haben oder welchen Wochentag – aber hier draußen spielt es auch kaum eine Rolle. Ich brauche es nur zu wissen, um die Totenscheine auszustellen, und sobald ich mich dann für wenige Stunden auf mein Feldbett lege, habe ich es auch schon wieder vergessen. Wenn ich mitbekomme, wie oft die einfachen Soldaten nach Hause schreiben, fühle ich mich jedes Mal schuldig, aber nach meinen Diensten bin ich meist zu müde, schmerzen mir Hände und Arme. Amy schimpft auch schon, dass ich so wenig schreibe – wohl aus Sorge, mir könnte etwas geschehen sein, hört sie länger als zwei Wochen nichts von mir.
Nun hat es sich gerächt, dass der September und Oktober noch so warm waren – Tausende von Männern haben nicht mehr an Kleidung als das, was sie am Leib tragen, weil sie ihren Offizieren gehorchten, die ihnen befahlen, Sack und Pack einfach an der Alma liegen zu lassen und weiterzumarschieren. Wir hocken auf den Höhen über Sebastopol wie auf einem Leuchtturm – tolle Aussicht von hier aus, und ich wette, die Russen haben eine noch bessere auf unsere Stellungen! Außerdem halten sie die einzig gute Straße. Zwar ist das Wetter noch akzeptabel, aber die Wege sind nicht befestigt und oft matschig von der Feuchtigkeit des späten Herbstes. Keine Chance, sie vor dem Winter noch instand zu setzen, da die Gegend so verlassen ist, dass wir keine einheimischen Arbeiter anwerben können. Wir haben kein Werkzeug und vor allem keine Wagen oder Zugtiere. Und jeden Tag muss ich Männer mit Ruhr, Skorbut und Wundbrand oder einfach halb verhungert und am Ende ihrer Kräfte nach Scutari schicken.
Balaklawa war grauenhaft. Die tatsächlichen Verluste hielten sich in Grenzen für eine Schlacht dieser Größenordnung, denke ich – aber die Verwundeten! Stapelweise wurden amputierte Arme und Beine – noch mit Ärmeln und Hosenbeinen daran – in die Bucht des Hafens geworfen, der Lord Raglan wegen seiner strategischen Lage so begeistert hatte. Unter der Wasseroberfläche konnte man sie hindurchschimmern sehen, und Leichen tauchten plötzlich aus dem Schlamm wieder auf – ein grauenvoller Anblick! Das einst klare Wasser war mit schrillfarbigem Schaum bedeckt, und das ganze Dorf roch nach Schwefel.
Ich muss mich wieder meinen Patienten widmen – auch wenn ich nicht weiß, wie ich ihnen helfen soll, außer sie nach Scutari zu schicken: auf klapprigen Gäulen und Ponys oder zu
Weitere Kostenlose Bücher