Unter dem Vampirmond 04 - Schicksal
nicht wäre – ihr Foto hängt in der ganzen Stadt. Mae hat sie schließlich entführt.«
» Ich weiß«, sagte ich nickend. » Sie kann hier nicht wohnen, nicht in der Stadt.«
» Und wo sollen sie dann bleiben?«, fragte Milo.
» Ich weiß es nicht …«, sagte ich nachdenklich. » Aber Olivia ist der älteste Vampir, den ich kenne. Vielleicht kennt sie sich ja mit Kindervampiren aus.«
» Du kennst gerade mal fünf Vampire. Das will nicht viel heißen«, sagte Milo.
» Ich kenne viel mehr Vampire«, protestierte ich. » Und sie ist ungefähr sechshundert Jahre alt. Da muss sie doch etwas über sie wissen.«
Ein Stöhnen aus der Küche erinnerte mich an Jacks Sturz.
» Ich muss mich um Jack kümmern, dann gehe ich zu Olivia«, sagte ich. » Du kannst mitkommen, wenn du willst.«
In der Küche fand ich Jack bewusstlos auf dem Boden liegend. Auch als ich ihn hochzog, rührte er sich kaum. Also trug ich ihn in unser Zimmer hinauf und lud ihn auf dem Bett ab. Ich hatte Jack noch nie so erschöpft erlebt, allerdings auch noch nie so blutleer.
Jack so friedlich und verletzlich auf dem Bett schlafen zu sehen, rief in mir ein seltsames Gefühl hervor. Er war bisher immer der Stärkere von uns beiden gewesen. Doch in letzter Zeit änderte sich das.
Als Vampir war ich kräftiger geworden und dank meines Trainings mit Olivia war ich ihm auch im Kampf überlegen. Vor einigen Tagen hatten wir zum Spaß miteinander gekämpft und ich hatte ihn problemlos überwältigt. Ich war stärker als er und das … verwirrte mich.
» Wirst du Jack noch lange anstarren oder können wir jetzt gehen?«, fragte Milo, der seinen Kopf zur Tür hereinstreckte.
» Einen Moment. Ich muss mich nur noch umziehen.« Ich eilte zum Schrank und streifte mir etwas über, während Milo, eine SMS schreibend, an der Tür wartete. » Wem schreibst du denn so eifrig?«
» Bobby. Ich sage ihm, dass er nach der Schule nicht herkommen soll.«
» Warum denn nicht?« Ich ging an ihm vorbei zur Treppe, und Milo folgte mir, immer noch auf sein Handy konzentriert.
» Weil es hier nicht mehr sicher ist«, sagte Milo. » Du hast ja gesehen, was in Australien passiert ist. Er kann nicht in Daisys Nähe sein. Das werde ich nicht riskieren.«
» Aber sie ist doch noch gar nicht hier.« Ich drehte mich auf der Treppe nach ihm um.
» Genau das hat er auch gesagt. Ich glaube, ihr beide verbringt zu viel Zeit miteinander.«
» Er ist der einzige menschliche Freund, den ich noch habe«, entgegnete ich schulterzuckend.
» Ich glaube, er ist überhaupt der einzige Freund, den du hast«, seufzte Milo.
Wir waren noch im Flur, als Bobby – Milos Warnungen zum Trotz – durch die Garagentür hereinkam.
» Am besten, du drehst gleich wieder um«, forderte Milo.
» Das werde ich nicht tun. Sie ist doch noch gar nicht hier«, insistierte Bobby.
» Na ja, wir gehen jedenfalls.« Ich ging an ihm vorbei zur Garage. » Zu Olivia. Willst du mitkommen?«
Ich bereute es schnell, Milo und Bobby mitgenommen zu haben. Die ganze Fahrt über stritten sie darüber, ob es für Bobby zu gefährlich war, wenn er zu Besuch kam. Da Bobby sich in diesem Semester nicht um einen Platz im Studentenwohnheim gekümmert hatte und deshalb nicht wusste, wo er bleiben sollte, lenkte Milo ein und erlaubte es ihm, noch eine Nacht zu bleiben. Morgen früh würden sie sich dann eine andere Lösung einfallen lassen. Doch zu diesem Ergebnis kamen sie erst nach einem gut zehnminütigen Gezanke.
Während ich nachts die Glaswände des Penthouse zu schätzen wusste, erschienen sie mir nachmittags eher wie eine Qual. Die Sonne war bereits gesunken und stand genau auf Höhe der Fenster. Und obwohl diese getönt waren, stachen mir die grellen Strahlen wie Nadeln in Haut und Augen.
Die Wohnung schien gesäubert worden zu sein. Trotzdem klopfte Milo auf das Sofapolster, bevor er sich setzte, als hätte er Angst, sich sonst etwas einzufangen. Bobby hingegen, der schon viel öfter mit mir hier gewesen war und sich deshalb wesentlich heimischer fühlte, ließ sich gelassen aufs Sofa plumpsen.
Ich hatte Milo überreden wollen, mit mir zu trainieren, aber davon wollte er nichts wissen. Er kämpfte nicht gern und wollte mit Olivia nichts zu tun haben, weil er sie für eine Trinkerin hielt. Er wollte ein möglichst normales Leben führen, dasselbe, das er geführt hätte, wenn er nicht zum Vampir geworden wäre. Und zu diesem Leben gehörte nun einmal keine Kampfausbildung. Das war sein Standpunkt.
Olivia
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