Unter dem Weltenbaum - 01
überleben.«
Das Mädchen riß den Blick vom Universum los und sah den Wächter an. Auch auf seinen Wangen zeigten sich Spuren von Tränen. »Also sind nicht nur die Zaubererkönige hindurchgegangen?«
Der Schweinehirt dachte gründlich nach, ehe er antwortete. »Es heißt, eines Tages werde aus dem Volk der Ikarier ein Zauberer hervorgehen, der über genügend Kräfte verfüge, durch das Tor zu gelangen und den Weg zurückzufinden. Ich habe aber keine Ahnung, was er dort finden wird.«
Vielleicht hat er es auch schon gefunden, dachte der Wächter. Sein Blick fiel unwillkürlich auf die sechsundzwanzig Säulenskulpturen mit den freudig ausgebreiteten Armen.
Faraday blickte wieder in das Becken. »Ich verstehe nicht, wie jemand überhaupt wieder von hier fort wollen kann«, flüsterte sie.
»Ein Glück für Euch, dieses Tor gesehen zu haben«, entgegnete Jack leise. »Bewahrt den Anblick in Eurem Herzen, denn er wird Euch über die nächsten Jahre Eures Lebens helfen.«
»Ich werde ihn nie vergessen«, versprach das Mädchen mit aller Entschiedenheit. Der Wächter zog sie vom Rand des Beckens weg und führte sie zu Timozel, der sich immer noch weigerte, in das Sternentor zu schauen. »Haltet sie von dort fern, Bursche«, befahl er ihm. Der Jüngling nickte. Auf der einen Seite ärgerte er sich darüber, von einem Schweinehirten ›Bursche‹ genannt zu werden, auf der anderen Seite war er froh, die Verantwortung für die Edle übertragen zu bekommen.
Jack kehrte zum Becken zurück und beredete sich leise mit Yr, die immer noch voller Verzückung das Sternentor betrachtete. Dann senkte sie demütig das Haupt, erhob sich und kehrte mit dem Wächter zu den beiden jungen Leuten zurück.
»Führt jeder dieser Torbogen zu einem Grabhügel zurück?« fragte Timozel. »Es gibt hier doch mehr Bogen als Gräber!«
»Nur einige von ihnen haben eine Verbindung zu den Ruhestätten. Andere führen … sonstwohin. Die Ikarier benötigten weit mehr Zugänge zum Sternentor – da reichten die Gräber ihrer Zaubererkönige nicht aus. Und dann gab es Wesen, die ebenfalls häufig das Tor aufsuchten und es durchschritten. Deren Zugänge zu dem blauen Licht werden Euch noch viel merkwürdiger erscheinen als diese. Nun kommt, und sorgt dafür, daß Faraday uns folgt. Ich führe uns durch einen anderen Gang hinaus.«
Jack nahm Yrs Hand und geleitete sie zu einem der Torbogen, die von den schlafenden Flügelwesen gebildet wurden. Als sie hindurchtraten, erwachte das Mädchen wie aus einer Trance und warf einen letzten Blick auf den Saal des Sternentors.
»Warum hat man diese Wesen mit Schwingen ausgestattet, Jack? Stehen sie als Symbol für ihre Fähigkeiten, zu den Sternen zu reisen?«
Der Schweinehirt blieb stehen, wandte sich zu ihr um und lächelte, weil er es einfach nicht fassen konnte. Hatte das Mädchen denn überhaupt nichts begriffen? »Ein Symbol? Nein, mein Liebes, diese Säulen stellen genaue Abbildungen der Ikarier dar. Liebe Herrin, die Ikarier konnten tatsächlich fliegen!«
24 Über die Ebenen von Arkness
Der Abstieg zur Halle war ihnen schon nicht leichtgefallen, doch der Wiederaufstieg erwies sich als Alptraum.
Nach unten hatte der Weg über eine steinerne Treppe geführt, deren Stufen von Handwerkern behauen und zusammengefügt worden waren. Doch der Weg, den der Schweinehirt jetzt wählte, um sie vom Sternentor fortzubringen, verwandelte sich allzurasch in einen bloßen Tunnel, den man ins Erdreich gegraben hatte. Nur hier und da ragte ein Balken aus dem Dunkel, mit dem die behelfsmäßig wirkenden Erdwände abgestützt waren. Daß die vier Gefährten sich der Oberfläche näherten, bemerkten sie an den Baumwurzeln, die plötzlich in den Gang ragten, und an dem Wasser, das von der Decke tropfte. Die Nässe drang in Umhänge und Röcke, und wenn man sie mit dem Mund aus dem Stoff saugte, löschte sie kaum den Durst. Mit dem Wasser lösten sich immer wieder feuchte Klumpen aus der Decke. Um kein Licht zu verschwenden, hatte Jack angeordnet, nur eine Lampe anzuzünden. Faraday hielt sich an Timozel fest und stolperte mit ihm über den unebenen Boden. Sie litt schreckliche Angst, daß jeden Moment der Tunnel über ihr einstürzen könne.
Laut dem Wächter – weder Faraday noch Timozel wußten, wie er das feststellen konnte – brauchten sie einen vollen Tag und fast die gesamte folgende Nacht, um nach oben zu gelangen. Er erklärte auch, daß der Rückweg deshalb soviel länger daure, weil der Tunnel sie
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