Unter dem Weltenbaum - 01
beobachteten, wie der Himmel sich über den Grenzbergen aufhellte. Sie hatten die ganze Nacht hindurch geredet und mußten jetzt bald damit aufhören, wenn die Jüngere rechtzeitig vor Sonnenaufgang unentdeckt ins Bett zurückkehren wollte.
Die Ältere wandte den Blick vom Himmel. Sie besaß feine Züge und so unglaublich dichtes, welliges Haar, daß es sich kaum von Nadeln und Kämmen bändigen ließ. Am Haaransatz trug sie ein zwei Finger dickes goldenes Band im silbrigen Haar. Jetzt lächelte sie der anderen zu, die viel auf sich genommen hatte, um sich in dieser Nacht mit ihr zu treffen.
»Es ist sehr großzügig von dir, meine Liebe, uns deine Hilfe anzubieten.«
Die Jüngere sah sie an. »Du traust mir immer noch nicht, wie?«
Die Augen der Älteren wirkten so grau wie Rauch, der von schwelendem nassem Holz aufsteigt. Selbst Funken schienen darin zu sprühen. »Die Gründe dafür dürften dir bekannt sein, oder?«
»Ja, sie sind mir bekannt.« Die Jüngere rieb sich die Arme. »Aber was soll ich tun, damit du mir endlich vertraust? Sag mir, wie ich es anstellen muß.«
»Vertrauen kann nicht gekauft werden. Und auch nicht erzwungen. Es verlangt seine Zeit.«
»Du weißt doch, daß dir keine Zeit mehr bleibt.« Die Silberhaarige dachte nach. »Uns hat nie ausreichend Zeit zur Verfügung gestanden, Aschure. Auch an Raum hat es uns stets gemangelt. Und ebenso an der Achtung. Wir sind auf die Hilfe von Menschen wie dir angewiesen und müssen daher auf der Hut sein.«
Enttäuscht von dieser Zurückweisung wandte Aschure sich zum Dorf und zeigte darauf. »Sie hassen alles, was sie nicht verstehen können. Der Weg des Pflugs hat sie so erzogen.«
Die Ältere legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm und entgegnete mit trauriger Stimme. »Das weiß ich, Aschure. Glaub mir, dessen bin ich mir bewußt.«
»Goldfeder, du mußt mir vertrauen, bitte! Ihr braucht doch ganz dringend Hilfe mit den Kindern.«
Goldfeder schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein, Aschure, dafür ist es zu spät. Der einzige, der uns vor dem Zerstörer schützen könnte, ist verloren und kann nicht wiedergefunden werden. Die Wächter schreiten noch nicht über das Land, und den Baumfreund gilt es noch zu entdecken. Bald kehrt der Winter zurück. Dann erhebt das Eis seine Ansprüche auf uns. Tencendor kann nicht kämpfen, solange es nicht eins ist.«
Tränen füllten ihre Augen. »Du mußt nun in dein Haus zurückkehren und dich sputen, Aschure. Sing schön, und flieg hoch. Hoffentlich findest du deinen Frieden in diesem baumlosesten aller Länder.« Sie beugte sich vor und küßte die junge Frau auf die bleiche Wange.
5 Im Palast des Königs
Nachdem Embeth verschwunden war, blieb Axis noch eine Stunde wach liegen. Als der Himmel sich dann zur Dämmerung verfärbte, fluchte er leise und stand auf. Er fühlte sich wie zerschlagen. Nur wenige Stunden Schlaf waren ihm vergönnt gewesen, ehe der Alptraum ihn heimgesucht hatte. Nach dem harten Ritt hätte er sich gern eine ganze Nacht ausgeschlafen.
Axis spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, um sich wenigstens von dem getrockneten Schweiß des Nachtmahrs zu befreien, und zog sich im Dunkeln an. Wozu eine Kerze anzünden? Seine Gedanken beschäftigten sich mit den Entscheidungen, die Jayme ihm mitzuteilen hatte. Er fürchtete sich davor.
Der Bruderführer betete bereits, als der Axtherr in das Gemach trat. Er kniete vor dem Altar, auf dem sich eine wunderbare, aus Gold und Silber gefertigte Ikone von Artor dem Pflüger befand. Axis kniete schweigend hinter ihm nieder, senkte den Kopf zur Andacht und hoffte, daß der Rhythmus der alten Worte und Gebetesformeln seinem Geist Beruhigung schenken möge. Aber die heiligen Worte hielten an diesem Morgen keinen Trost für ihn bereit – nichts vermochte den Eindruck des ungewohnt heftigen Alptraums der zurückliegenden Nacht zu mildern. Nach einigen Minuten wanderten seine Gedanken zu den tagtäglichen Problemen, die es mit sich brachte, eine Eliteeinheit von viertausend Soldaten zu führen.
Nach einer Weile bemerkte er, daß Jayme neben ihm stand und ihm eine Hand auf die Schulter gelegt hatte. Axis seufzte innerlich. Der Bruderführer lenkte ihn erfolgreich von den logistischen Berechnungen ab, wie man sechs Kohorten Axtschwinger von Nordmuth nach Karlon bringen konnte.
»Mein Sohn, du darfst nicht so inbrünstig beten, sonst heißt es am Ende noch, der Axtherr sei noch frömmer als der Bruderführer … und dazu wollen wir es doch nicht
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