Unter dem Zwillingsstern
hatte im April begonnen, wenn er s i ch ri c htig e rin n erte, kurz nachdem die Briten ihre Gegen o ffensive flogen und die Luftwaffenangriffe und Bo m bardierungen vom l et z ten Jahr erwiderten. Plötzlich hieß es, um mehr Wohnungen für die deutsche Bevölkerung zu schaffen, würden so viele noch in B e rlin verbliebene Juden wie dafür nötig nach P olen »evakuiert« werden. Er versuchte sich nicht vorzustellen, was sich hinter dem Wort »evakuiert« verbarg. E r hatte Gerüchte gehört. Unter der Hand, und g e wiß nicht in allem zutreffend, aber es genügte, um Üb el keit in ihm auszulösen, wenn er daran dachte. W ie ein Mantra zählte er die Na m en der Juden und Halbjuden auf, die er persönlich kannte und die e n tweder in Sicherheit waren oder zu m i ndest im Augenblick nicht gefährdet, und versuchte, die übrigen an den Rand seines Bewußtseins zu drängen. Manch m al fiel es leicht; schließlich sah m an sie kaum noch. Aber in diesem Nove m b e r war es un m öglich, nicht nur wegen der Gruppe dort am Bahnsteig.
» W eißt du was«, sagte er und w a ndte den Blick ab, »dein Freund Conny hat recht. Ich bin ein Feigling. Aber ich kann dir verraten, was ein echter H eld täte, und es hat nic h ts da m it zu tun, an der F ront zu kä m p fen. Ein Held würde jetzt zu den Leuten dort hingehen und entweder m it ihnen fahren oder v e rsuchen, sie davor zu bewahren, überhaupt fahren zu m ü s sen.«
Martina versuchte, zu begreifen, w as er m einte. Sie hatte in d er Schule gelernt, daß Juden böse Menschen waren, die nur im Sinn hatten, dem deutschen Volk zu s c haden, aber die Leute dort drüben wirkten eingeschüchtert und ängst l ich, gar nicht dä m onisch, und Dada war bestimmt nicht schlecht gew e sen. Dann klärte sich ihre Stirn.
»Aber den Leuten geschieht nic h ts Böses«, sagte sie b estim m t .
»Sie haben schließlich SS-Männer als Schutz dabei. Und wenn sie nicht wegfahren wollen, dann m üss e n sie nur dem Führer schreiben. Der Führer weiß, was gut für uns alle ist. E r i s t u nser Retter.«
Zum Glück enthob ihn d i e eintreffende Straßenbahn einer Antwort. Doch in sei n em Inneren f estigte sich der Entsc h l u ß, ihr d ie W irklichkeit auf ei n e W eise klarzu m achen, die Moni k a u nd ihre Le hr er n i cht m ehr wegerklären konnten. Sie w a r alt genug. Er hatte m it acht schon seine Erfahrungen gehabt, w a s den Tod anging, und das Prinzip der Feme m orde genau begriffen. Außerdem war er vielleicht der täglichen Propaganda in Radio und Zeitungen gegenüber taub geworden, aber sie aus dem Mund sei n er Tochter zu hören, riß die W älle nieder, die er um sich gebaut hatte.
» W arst du schon ein m al auf einer B eerdigung, Martinette ? «
Sie schüttelte den Kopf und wies ihn darauf hin, daß sie ihm schon einmal gesagt hätte, sie habe noch nie einen Toten gesehen.
»Das eine schließt das andere nicht aus.«
Zunächst fuhr er m it ihr zu seiner Wohnung, da m it sie ihren Koffer loswurde. Seit er gestern von der A ngelegenheit erfahren hatte, hatte er m it dem Entschluß g ekä m p f t, den er j e tzt a u s f ührte. Er blic k te auf seine Uhr. Noch Zeit genug. Zu M a rtinas Überraschung nah m en sie das Auto; die Beerdigung, erklärte er ihr, finde in Stahnsdorf statt, und es lohne sich, dafür den W agen zu neh m en.
» W er wird denn beerdigt? Ein Freund von dir?« erkundigte Martina sich, während sie neben ihn auf den Beifahrersitz hopste. Er verbannte sie nie auf den Rücksitz, w i e es Papa Larwitz fr ü her getan hatte, bevor er an die Front m ußte. Ma m a konnte nicht Auto fahren, und deswegen war der Ausflug, den sie gerade unternah m en, eine willkom m ene Rarität.
»Nein. Ich habe ihn kaum gekannt. Ich wer d e es dir erzählen, aber zuerst schulde ich dir noch die Beschreibung des Todes. Tote spüren nichts m ehr, fühlen nichts m eh r , sehen nichts mehr. W enn m an sie anfaßt, sind sie kalt und hart, es sei denn, m an wartet noch ein paar Tage, dann werden sie langsam weich und schw a m m i g und fangen an zu stinken. I m Krieg kann m an n i cht im m er a lle gleich beerdigen, also gibt es von der letzten Sorte eine ganze Menge. Ihr F l eisch wird grün und verwest, das heißt, es ver f ault, fällt ab, die W ü r m e r graben sich durch.«
Martina zog eine entsetzte Gri m asse, doch sie fand es auf g r useli g e Weise faszinierend. Auf jeden Fall etwas, m it dem sie ihre Freunde beeindrucken konnte.
»Aber… verfault wirklich jeder, w
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