Unter den Linden Nummer Eins
»Überall ist es knapp, das schnöde Geld. Und wo spart der Mensch zuerst? An der Kultur! Wir merken es sehr deutlich bei uns, kann ich Ihnen versichern. – Aber genug geklagt, womit kann ich Ihnen dienen?«
»Der Hemingway im Fenster«, sagte Karl. »Ich brauche ein Buch, das mich ein wenig den Alltag vergessen läßt. Regelmäßig Zeitung zu lesen, schaffe ich noch gerade. Und was man dort erfährt, ist meist nicht sehr aufbauend.«
»Es geht um Stierkampf. Stierkampf als … nun, ja, quasi als Weg der Lebensmeisterung, eben Hemingway. Aber ich muß gestehen, mehr als den Klappentext habe ich selbst noch nicht gelesen.« Er holte Karl das Buch aus dem Schaufenster.
Karl blätterte. »Klingt interessant. Können Sie mir sonst noch etwas empfehlen?«
Herr Asher trat an das Regal mit den deutschsprachigen Neuerscheinungen. »Das ist soeben ausgeliefert worden: Die Geschichten Jakobs von Thomas Mann. Als ich neulich mit meiner Frau im Adlon speiste, habe ich ihn übrigens gesehen.«
»Herr Mann hat Interviewtermine mit amerikanischen Literaturkritikern zum Thema Zeitgeist in Deutschland gehabt.«
Herr Asher trommelte mit den Fingern auf den Hemingway. »Dazu gäbe es allerdings eine Menge zu sagen! – Hoffen wir auf Hindenburg und von Papen, daß sie Hitler an die Kandare nehmen!«
›Wieder einer von den ‚Hoffern‘‹, dachte Karl resigniert und erinnerte sich daran, womit sich die betrunkenen SA-Führer im Oriental gebrüstet hatten.
Eine Kundin betrat den Laden.
»Sie entschuldigen mich bitte, Herr Meunier. Fräulein Polzin wird Sie weiter beraten.« Er schellte mit einer Handglocke.
Fräulein Polzin war Karls Lieblingsverkäuferin, ein aufgewecktes Mädchen mit langem geflochtenem Haar und strahlenden Augen. Sie war für ihr Alter ungeheuer belesen, hatte ihre Lehre bei Asher und Co . gemacht und war im Geschäft verblieben. Jetzt betreute sie den ausländischen Zeitungsversand im zweiten Stock der Buchhandlung sowie die allgemeine Belletristik.
»Guten Tag, Herr Meunier. Wie geht es Ihnen?«
»Kann nicht klagen, meine Gute.«
»Und Ihrer …«, sie suchte den Bruchteil einer Sekunde nach den passenden Worten, »Frau … Gemahlin?«
Karl gelang es, ernst zu bleiben. Vera war zwei-, dreimal mit ihm in der Buchhandlung gewesen. Fräulein Polzin hatte sie bei der Auswahl von Kinderbüchern beraten. Veras zahllose Nichten und Neffen hatten andauernd Geburtstag.
»Danke der Nachfrage. Sie ist wohlauf. Für mich habe ich, glaube ich, schon etwas gefunden. Bloß noch nicht für sie.« Er hielt den Hemingway hoch.
»Kennt sie die Moselfahrt aus Liebeskummer von Rudolf G. Binding?«
»Meines Wissens nicht. Worum geht es da?«
»Eine ungewöhnliche Novelle. Nicht wie Rheinsberg, auch nicht wie bei Hesse. Es könnte ihr gefallen. Der Erzähler bereist mit einer Zufallsbekanntschaft, einer Frau, die aus Liebeskummer an die Mosel gefahren ist, das Moseltal.«
»Wie geht die Geschichte aus?«
»Sie trennen sich am Ende der Reise.«
»Also kein Happy-End! «
»Nein, aber auch kein Drama.«
»Dann nehme ich es«, sagte Karl. »Und ich sehe da im Regal eine Sonderausgabe vom Steppenwolf . Meinen hab ich letztes Jahr verschenkt. Der ist dann für mich zur Balance, falls meine … Frau bei der Lektüre zu stark von der Moselfahrt beeinflußt werden sollte. Wir planen nämlich auch bald eine Reise.«
Fräulein Polzin merkte, daß Karl scherzte, und sagte: »Ich kann Ihnen natürlich auch Basilius Hübel empfehlen. Bei ihm endet alles immer in Friede-Freude-Eierkuchen.«
Karl lachte. »Nein, bloß den nicht. Dann allemal lieber Drama ohne Ende!«
›Sie ist gut, die Kleine‹, dachte Karl. ›Wie war ich in dem Alter? Rilke habe ich gelesen und Königliche Hoheit und an Wunder geglaubt. An den Kaiser natürlich auch und an Volk und Vaterland und all den Mist. All die Neuromantiker mit tragischem, heroischem Ausgang. Hauptmann? Das war erst nach dem verfluchten Krieg. Morgenstern eigentlich erst auch. Den Cornet hab ich in der Satteltasche mitgeschleppt, als sie mir das arme Pferd unter dem Arsch weggeschossen haben. Mein treuer Roter, der mich aus dem Granattrichter gezogen hat, als ich halb verschüttet lag.‹ Karl folgte der Buchhändlerin zur Kasse.
Eine Wagenkolonne mit Polizeieskorte raste mit hoher Geschwindigkeit zur Wilhelmstraße. Der Schlußwagen fuhr dicht an der Bordsteinkante. Das Wasser aus dem Rinnstein spritzte bis gegen die Schaufenster. Herr Asher hatte geistesgegenwärtig die
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