Unter den Sternen des Südens: Australien-Saga (German Edition)
Mit Dad ist das anders. Ich gehe oft zum Fluss und setze mich ans Ufer. Ich weiß nicht genau, warum. Vielleicht versuche ich so, mit ihm in Kontakt zu treten oder sogar, etwas von ihm zu finden wie seine Armbanduhr oder sein Taschenmesser, irgendeinen Beweis dafür, dass er in jener Nacht tatsächlich da war und ich ihn mir nicht eingebildet habe. Ich frage mich, ob … nun, hätte ich mich nicht so dämlich verhalten, hätte ich es vielleicht verhindern können.« Es entstand eine kurze Pause, dann fuhr sie fort: »Ich frage mich immer wieder, ob Dad ins Wasser gesprungen ist, verstehst du? Mir ist im Nachhinein klar geworden, dass er in keiner guten seelischen Verfassung war, bevor das Hochwasser kam.«
Kevin nickte. »Und wie läuft es mit der Farm?«
Amandas Mundwinkel bogen sich leicht nach unten, während sie sich wunderte, was die Frage sollte. »Mittlerweile ganz gut. Die ersten zwei Jahre waren hart, aber seit ich meine Lämmerzucht erweitert habe, kommt auch mehr Geld rein.« Sie zuckte die Achseln. »Warum fragst du?«
»Sage ich dir gleich. Was ist mit Freunden? Gehst du häufig aus?«
»Äh, eigentlich nicht. Ich gehe hin und wieder zu Adrians Dinnerpartys. Und ich habe mich mit einer jungen Frau angefreundet, die im Farmergroßhandel arbeitet. Sie begleitet mich auf der Fuchsjagd. Meine alten Freunde sind alle weggezogen. Die wohnen jetzt in Sydney und Perth.«
»Dann hast du also kaum Kontakt zu Gleichaltrigen?«
»Eigentlich nicht.«
»Okay, Amanda, ich möchte, dass du dir vor Augen hältst, was du in den letzten Jahren erlebt hast – wie viele sind es, fünf, seit deine Mutter gestorben ist? Du hast beide Eltern verloren, und wenn man den Gerüchten in der Stadt Glauben schenken darf, gehörte deine Farm praktisch schon der Bank. Du hattest den doppelten Stress, die Farm zu bewirtschaften und einen drohenden Konkurs abzuwenden, und du warst auf dich alleine gestellt. Bei wem hast du dich ausgesprochen? Über deine Zweifel, deine Ideen, deine Errungenschaften?
Hast du um deine Eltern getrauert? Ich würde fast wetten, nein. Du warst sicher viel zu beschäftigt damit, die Farm zu retten.
Weißt du, Amanda, wir Ärzte in den Kleinstädten und auf dem Land hören und sehen viel. Wir wissen in der Regel, was los ist. Ich persönlich hatte schon immer ein besonderes Augenmerk auf dich. Du verlierst nicht den Verstand, und du bildest dir auch nichts ein. Es gibt einen Namen für das, was du durchmachst, und es gibt Therapiemöglichkeiten. Du hast die klassischen Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung.«
Zurück in ihrer Küche blickte Amanda auf die Schachtel Antidepressiva, die ihr der Arzt mitgegeben hatte. Sie rang innerlich mit sich selbst, eine Tablette herauszudrücken und in den Mund zu schieben. Irgendetwas hielt sie davon ab.
Sie fragte sich, was ihre Eltern dazu sagen würden. Oder ihr Großvater. Als einer der ersten Siedler musste Michael einiges durchgestanden haben, aber in seinem Tagebuch gab es keine Anzeichen von Schwäche.
In diesem Moment klingelte das Telefon. Amanda vergaß augenblicklich die Tabletten und meldete sich mit einem fröhlichen »Hallo?«
»Ich muss sagen, du klingst besser, als ich erwartet habe«, entgegnete Hannah. »Was ist los? Du hast meinen Bruder in helle Aufregung versetzt!«
»Hallo, Hannah. Ach, mach dir keine Gedanken wegen Jonno, der hat da was falsch verstanden«, schwindelte Amanda. »Und jetzt macht er aus einer Mücke einen Elefanten. Mir geht es gut! Er hat mich bloß an einem schlechten Tag erwischt.«
»Ah ja«, sagte Hannah skeptisch. »Und deshalb hat er mich völlig aufgelöst angerufen und mir erzählt, dass du ein emotionales Wrack bist.«
»Verdammt, wem hat er das noch alles erzählt? Adrian hat er nämlich auch ausgefragt. Ehrlich, Hannah, mir geht es gut.«
»Verstehe. Na dann, sorry, dass ich mir Sorgen um dich gemacht habe.« Hannahs Stimme klang sarkastisch. »Und, was gibt es Neues bei dir?«
Sie plauderten ein paar Minuten über dieses und jenes, dann sagte Hannah in sanfterem Ton: »Mandy, ich kenne dich sehr gut, und ich höre an deiner Stimme, dass irgendwas nicht stimmt. Komm schon, spuck es aus. Was ist los?«
Amanda traten die Tränen in die Augen, und sie brachte keinen Ton hervor. Als sie schließlich ihre Stimme wiederfand, sprudelte alles aus ihr heraus. Die Geräusche in der Nacht, die fremden Lichter und alles andere. Das Foto erwähnte sie allerdings nicht. Sie konnte noch nicht damit umgehen.
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