Unter den Sternen von Rio
und nicht zuletzt für Dich eine Katastrophe viel schlimmeren Ausmaßes als Dein Absturz, wenn zwischen uns etwas erwachsen würde, das über Freundschaft hinausgeht.
Gute Besserung wünscht Dir
Ana Carolina
Vitória legte den Füllfederhalter beiseite und las sich ihren Schrieb noch einmal durch. Ja, das klang genau nach ihrer Tochter. Sie war zufrieden mit sich und ihrer kleinen Intrige, auch wenn die Tatsache, dass sie sich überhaupt zu solchen Maßnahmen gezwungen sah, ihr nicht behagte. Aber es ging nicht anders. Sie musste mit allen Mitteln verhindern, dass ihre Tochter und der Spross dieses Carvalho-Packs einander näherkamen. Das Ganze musste sie außerdem vor allen geheim halten. Nicht einmal León konnte sie einweihen – den am allerwenigsten. Sie hoffte, dass ihr Plan aufging, und steckte den Umschlag in ihre Handtasche, um ihn beim nächsten Gang in die Stadt aufzugeben.
Drei Tage später standen sie und León am Pier und beobachteten das Anlegemanöver des Schiffes, mit dem Joana und Max aus Paris eintrafen. Endlich! Vitória hatte nur wenige gute Freunde, und Freundinnen hatte sie außer Joana gar keine. Sie waren einmal Schwägerinnen gewesen, vor Ewigkeiten, als sie noch jung und schön gewesen waren. Damals war Vitória eine waschechte Sinhazinha gewesen, die Tochter des Kaffeebarons. Brasilien hatte noch einen Kaiser gehabt, und es hatte Sklaverei gegeben. Es verkehrten noch keine Automobile, geschweige denn Flugzeuge, es gab kaum Telefone, in den wenigsten Haushalten elektrisches Licht. Fotokameras waren für Privatleute unerschwinglich und nicht bedienbar gewesen, es gab weder Grammophone noch Radio. Wie viel sich in der kurzen Spanne eines halben Menschenlebens getan hatte! Die Welt war eine andere geworden, und dasselbe galt für sie selber.
Als Joana noch mit Pedro, Vitórias Bruder, verheiratet gewesen war, hatten sich die beiden jungen Frauen angefreundet. Sie hatten den Schmerz über Pedros viel zu frühen Tod geteilt, und diese gemeinsam erlittenen Qualen hatten sie einander nähergerückt, als es jedes noch so schöne Erlebnis hätte tun können. Ihre Freundschaft hatte die Jahrzehnte überdauert, trotz der großen räumlichen Distanz, die zwischen ihnen lag. Vielleicht auch gerade wegen ihr. Wenn man jemandes Marotten nicht jeden Tag ertragen musste, war es sehr viel leichter, diese Person zu mögen.
Die jungen Leute waren nicht mit zum Hafen gekommen.
»Geht ihr nur an den Strand«, hatte Vitória ihnen erlaubt, wobei sie ihr eigenes Interesse mehr im Blick hatte als das der Jugend. Sie wollte Joana gern in möglichst kleiner Runde empfangen, ohne das unvermeidliche Getöse, das die jungen Leute immer veranstalteten. Auf diese Weise würde Joana ein wenig von der Reise und anderen Dingen erzählen können, ohne dass Marie sie gleich mit ihren eigenen Erlebnissen überfiel. Sie wusste, dass es Joana so ganz recht wäre. Ihre Tochter und ihren Schwiegersohn konnte sie auch noch am Abend zu Hause begrüßen.
Das Schiff war ein Ungetüm von einem Ozeanriesen, es erinnerte fatal an die »Titanic«. Die Schlepper und Lotsenboote, die um es herumwimmelten, wirkten winzig. Auch unter den Menschen, die neugierig von der Reling aus das Treiben verfolgten, konnte man niemanden erkennen. Vitória war ebenso aufgeregt wie all die anderen Schaulustigen oder Abholer, die am Pier standen. León drückte ihre Hand. Er schien immer zu wissen, was gerade in ihr vorging.
Als das Schiff endlich angelegt hatte und vertäut war, als die Gangway ausgefahren wurde und die ersten Passagiere von Bord gingen, stellte Vitória sich vor lauter Nervosität auf die Zehenspitzen, obwohl sie vorn stand.
»Ich würde dich ja hochheben, Sinhazinha«, witzelte León, »aber ich denke, das würde dir auch keinen Vorteil verschaffen.«
»Du hast noch nie eine Lage richtig beurteilen können«, blaffte sie ihn an. »Und Zartgefühl ist dir ja ohnehin völlig fremd.«
Sie erntete ein spöttisches Lachen.
»Über Joana würdest du dich bestimmt nicht lustig machen, wenn sie Anzeichen von Aufregung erkennen ließe«, meckerte sie weiter.
»Natürlich nicht«, sagte Joana, die unvermittelt vor ihnen aufgetaucht war. »Vita!«, strahlte sie, und dann fielen sie einander in die Arme, herzten und küssten sich und weinten vor Wiedersehensfreude. Die beiden Männer standen unterdessen etwas hilflos dabei. Sie gaben sich die Hand und wechselten ein paar höfliche Floskeln. Sie waren einander zu fremd.
Vitória
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