Unter der Haut (German Edition)
zwanzig Seiten voller hastiger, verzweifelter Sätze, hauptsächlich Anklagen.
Ich bekam die Masern. Es war eine Epidemie. Damals musste man sechs Wochen in Quarantäne. Einige von uns Mädchen wurden in die Isolationsklinik eingewiesen, eine große, alte Villa in einem Garten. Zweimal am Tag wurden wir von einer Schwester aus dem nahen Salisbury-Krankenhaus besucht, die uns Medikamente gab und uns ermahnte: »Benehmt euch, ihr seid jetzt große Mädchen.« Ein »Boy« kochte für uns. Plötzlich entdeckte ich, dass ein Problem, das ich allmählich für unlösbar gehalten hatte, gar keins war.
Das Essen in der Highschool hätte sich nicht stärker von dem im Kloster unterscheiden können. Wenn man zum Frühstück, zum Mittag- oder zum Abendessen in den Speisesaal trat, schimmerte der ganze Saal in Weiß, denn an jedem Platz stand ein Glas Milch, und auf jedem Tisch waren mehrere Teller mit dünn geschnittenen, mit weißer, glänzender Butter bestrichenen Weißbrotscheiben. Zum Frühstück weißer Maisbrei mit weißem Zucker, weißes Brot mit goldenem Zuckersirup. Zu Mittag kaltes Fleisch und Salzkartoffeln, als Nachtisch »Kuchen«, ein Pudding mit Marmelade. Zum Abendessen Käsemakkaroni und dazu Weißbrot mit Butter. Einmal in der Woche bekamen wir eine Apfelsine, einmal ein wenig Salat. Wir lernten eine nützliche Lektion über den Gang der Welt, weil wir immer merkten, wann sich der Kücheninspektor angesagt hatte, denn dann standen Eier oder Götterspeise auf dem Tisch, wenn wir in den Speisesaal kamen. Überwiegend aber lebten wir von Weißbrot und Butter. Als ich Jahre später mit einer Leidensgenossin Erinnerungen austauschte, stellten wir übereinstimmend fest, dass diese Zeit die einzige in unserem Leben gewesen war, in der wir an Verstopfung litten. Und ständig Hunger hatten. Wir aßen Kapuzinerkresse, wir schmierten uns Senf aufs Brot, und wir bettelten um Fresspakete von zu Hause wie Flüchtlinge.
In der Isolationsklinik, wo wir in den Genuss der Krankenhauskost aus dem General Hospital kamen, verschwanden jene Symptome. Für mich war es eine sehr gute Zeit. Es wurde nichts von uns verlangt. Wir sollten zwar unser Pensum durcharbeiten, aber niemand hatte Zeit, uns zu beaufsichtigen. Wir waren nicht richtig krank. Wer waren die anderen Mädchen? Ich weiß es nicht mehr, nur dass wir viel gelacht haben, wenn wir auf der hölzernen Veranda herumsaßen und schwatzten und uns Geschichten ausdachten. Vor allem ist mir in guter Erinnerung, dass ich so oft allein sein konnte, wie ich wollte. Sechs Wochen sind eine lange Zeit für eine Dreizehnjährige. Sechs Wochen Freiheit, abgesehen von den schrecklichen anklagenden Briefen in jeder Post, aber die las ich nicht.
Als ich in den Ferien heimfuhr, war das Schlafzimmer meiner Mutter zu einer Art verlängertem Arm jener längst vergangenen Zeiten im Royal Free Hospital geworden. Ein hoher Nachttisch aus neu zusammengezimmerten Benzinkisten enthielt Arzneimittel und Vitamintabletten, und obendrauf stand ein Tablett mit Vaters Petroleumlampe und den Röhrchen für die Urinproben, die auf Azeton und Zucker untersucht werden mussten. Spritzen. Insulinkapseln. Spiritus. Watte. Teelöffel und Esslöffel zum Dosieren. Neben seinem Bett stand ein Tisch randvoll mit Arzneiflaschen. Vater und Mutter waren beide zwanghaft besorgt. Tatsächlich stand er kurz vor dem Verhungern. In jenen frühen Tagen des Insulins hatte man die Anwendung noch nicht ausreichend erforscht, und er sollte nur geringe Mengen kaltes Fleisch, Tomaten, Salat und altes Brot essen. Mehr nicht. Er war so dünn, dass seine Arme nur noch aus Haut und Knochen bestanden und seine großen, stets zitternden Hände skelettartig wirkten. In seinem Gesicht standen die Knochen hervor, dahinter tief liegende, unruhige Augen, die an einen Affen erinnerten. Doch sie folgten einer offiziellen Diät, ausgearbeitet von den Ärzten. Irgendwann beschloss meine Mutter, sich nicht mehr daran zu halten. Sie kam darauf, dass es Unsinn war, ein Medikament zu nehmen, das aus einer Verdauungsdrüse stammte, und ihm dann nichts Verdaubares zuzuführen, und verlegte sich aufs Ausprobieren. Gemeinsam legten sie fest, wie viel er von den verbotenen Speisen, Brot, Kartoffeln und Butter, essen durfte und wie viel Insulin er brauchte, und langsam nahm er wieder zu und kehrte unter die Lebenden zurück. Als ich am Ende der Ferien abreiste, war er gerade mühsam dabei, die Verwaltung der Farm wieder vom Bossboy und von meinem Bruder
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