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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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lesend unter einem Busch am Hang gelegen hat, und zu ihr sagt: »Wenn du nach England kommst, sprich nie mit einem Fremden. Auf keinen Fall mit einer Frau. Sie könnte sich neben dich setzen, und ehe du dich’s versiehst, hast du eine Spritze im Arm und wachst in einem Bordell in Rio wieder auf.«
    Verrückt, verrückt, verrückt – schrie ich stumm vor mich hin, denn er war immer noch zu krank, als dass ich mich mit ihm hätte streiten mögen. Ich tobte traurig und wütend durch den Busch, überwältigt von frustriertem Mitleid. Wenn ich meiner Mutter entkam, konnte ich ein gehöriges Maß an Mitleid aufbringen. Diese beiden Leute, diese kranken und halb verrückten Leute, meine Eltern – an ihrem Zustand war nur der Krieg, der Erste Weltkrieg, schuld. Jahrelang hielt ich mir deutlich, wie Szenen aus einem Film, vor Augen, wie sie gewesen wären, wenn der Krieg nie stattgefunden hätte. Sie eine fröhliche, tüchtige Engländerin, wahrscheinlich die oberste Leiterin des Women’s Institute von ganz Großbritannien oder eines landesweiten Pflegedienstes, keine Frau, mit der ich viel gemeinsam gehabt hätte, aber, und das war der springende Punkt, sie wäre zu der Person geworden, die in ihr steckte, und nicht zu diesem überarbeiteten, völlig überreizten Opfertier. Und ich brauchte nur Bilder von meinem Vater vor dem Krieg anzusehen – diese idealisierten Fotos machten alle anderen Chancen und Schicksalsschläge, die das Leben bereithält, undenkbar, aber eins wusste ich sicher: Mein Vater war ein starker, energischer Mann von eiserner Selbstbeherrschung gewesen, und das wäre er geblieben – und jetzt war er ein Invalide ohne Hoffnung auf Genesung. Ich streifte durch den Busch oder setzte mich auf einen Termitenhügel, vor Wut selbst am Rande des Wahnsinns, während ich meine Eltern vor mir sah, wie sie jetzt waren und wie sie hätten sein sollen – und von dort aus war es nur ein Schritt zu dem Gedanken: Wenn wir dafür sorgen, dass es keine Kriege mehr gibt, wird die Welt voller unversehrter, gesunder, vernünftiger und wunderbarer Menschen sein, die … Im Geiste lebte ich in Utopien, teils aus der Literatur geholt und teils als Kehrseite der Wirklichkeit, in der ich lebte. Ich begann, die Schwarzen in diese schönen, liebevollen Gesellschaften einzugliedern, vor allem schwarze Kinder. Gütige, großzügige, glückliche Menschen in Städten, aus denen keiner in den Krieg zog, schwarze, braune, weiße Menschen in schönster Eintracht…
    Tagträume … Auch meine Eltern verloren sich in Tagträumen und Fantasiebildern, alle beide. Mein Vater wusch schon seit Jahren Gold, teufte Schächte ab und hob Gräben aus, um Quarzgänge zu finden. Aber jetzt wurde es zu seiner Hauptbeschäftigung. Die Arbeit auf der Farm war Routine, mit ihr musste genug Geld erwirtschaftet werden, damit wir davon leben konnten, aber auf große Profite hoffte niemand mehr. Nein, die würde eine Goldader bringen. Sie warteten begierig auf Lotteriezahlen, kauften sogar Lose der irischen Staatslotterie.
    Abends hörten wir immer die Nachrichten aus London, eingeleitet von den volltönenden Glockenschlägen des Big Ben, die für mich genauso feierlich waren wie die Glocken der katholischen Kathedrale. Mein Vater schimpfte auf die Dummheit der englischen Regierung und ihre Blindheit gegenüber Hitler, den wir aus Deutschland ebenfalls toben und geifern hörten. Ich konnte es kaum aushalten, Radio zu hören, und es fiel mir schwer, still zu sitzen und meinem Vater zuzuhören. Allmählich wurde er ein typischer Diabetiker. Er wurde zunehmend hypochondrisch, nörglerisch, aufbrausend, bemitleidete sich selbst …
Wo war mein Vater?
    Oh, mein Gott, der unversöhnlich klare Blick der Jugend, geschärft von der Angst, dass einem selbst das gleiche Schicksal blühen könnte. »Ich will nicht, ich will nicht«, sprach ich häufig vor mich hin, wie ein Mantra. Unterdessen beobachteten die Eltern sich gegenseitig, und was sie sahen, unterschied sich nicht wesentlich von dem, was ich sah. Meine Mutter, die Krankenschwester, wusste alles über Diabetiker; sie war Zeugin des unabwendbaren Verfalls ihres stattlichen und unerschrockenen Mannes. Zwischen ihnen wiederholte sich eine Szene über die Jahre immer wieder. Er hat um etwas gebeten, oder sie hat auf dem Teetablett oder beim Tischdecken irgendeine Kleinigkeit vergessen, und sie springt wie angestochen von ihrem Stuhl auf, flitzt mit gesenktem Kopf los, das gehetzte Gesicht emporgereckt,

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