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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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wie die anderen auch. Aber wie konnte man eine richtige Freundin sein, wenn man nicht das Beste, was man in sich trug, mitteilen konnte, in diesem Fall die Seite meines Selbst, die durch das Leben auf der Farm geprägt war? Es gab kein einziges Mädchen auf der Schule, mit dem ich auch nur hätte reden können.
    Was ich
fühle
, wenn ich mich in diese oder jene Szene zurückversetze, ist schmerzhafte Einsamkeit, Isolation, Angst. Ich war ein unnahbarer Beobachtungsposten. Ich fühlte mich, kurz gesagt, wie wir uns alle fühlen, solange wir uns noch keinen Platz in einer Gruppe, einer Familie, einer Clique erobert haben, wo die kalte Luft nicht so hart auf die zarte Haut bläst. »Tigger« war es, die mir über das Schlimmste hinweghalf. Ich brachte die Mädchen zum Lachen und die Lehrerinnen auch. Sie waren in jeder Hinsicht anders als die Nonnen. Fast alle waren englisch, jung und unterrichteten nur ein oder zwei Jahre, bevor sie heirateten. Die Farmersfrauen bezeichneten sich im Scherz als Heiratsinstitute, weil alle ihre Hauslehrerinnen und Hausmädchen heirateten, ehe das erste Jahr um war, und an der Schule war es nicht anders. Diese jungen Frauen waren sachlich und forsch und brachten uns mehr bei, als auf dem Lehrplan stand, denn sie erzählten, wovor sie geflohen waren, vor der Arbeitslosigkeit nämlich, dem Stempelngehen, und dass Leute die Heimat verließen, um woanders hinzugehen, egal wohin, nach Australien, Kanada, Afrika, nur um dem schmutzigen, abstoßenden, grauen, hässlichen Elend Englands zu entkommen, von dem ich erst später in den Büchern Orwells und Patrick Hamiltons las. Aber da hatte ich das alles schon von den jungen Lehrerinnen gehört, die dem Ganzen entflohen waren.
    Manchmal fanden sie keinen Mann. Wir hatten eine Lehrerin, die nicht mehr jung war, vielleicht vierzig oder fünfzig, eine graue, kalte, hagere Person, die immer vernünftige Schuhe mit flachen Absätzen und dicke Strümpfe trug. Sie unterrichtete Geschichte. Wenn wir ihre Schritte vor der Klasse hörten, saßen wir alle mucksmäuschenstill, selbst die Mädchen mit dem schlechten Umgangston. Weshalb? Sie schlug uns nie und drohte nicht mal damit, nein, es lag an ihrer verächtlichen, sarkastischen Art, ihrem ärgerlichen Ton. Sie stellte sich mit dem Lineal in der Hand hin, starrte die gewöhnlichen Mädchen an, eine nach der anderen, und sagte ihnen, sie seien nichts als Pöbel, der Abschaum, sie hielten sich für schlau, aber nur, weil sie nicht sehen könnten, wie dämlich sie auf jemanden wirkten, der gebildet sei. Die kalten Augen wanderten langsam weiter durch die Klasse, als hätten sie alle Zeit der Welt, von einem Gesicht zum anderen. Dann legte die Lehrerin ihr Lineal absolut präzise ausgerichtet auf das Pult und fing mit dem Unterricht an. In jenem Jahr war es das Fach Geschichte des Altertums. Ihr Unterricht bestand darin, dass sie uns Sätze diktierte, die wir mitschreiben mussten. Meine Mutter schickte mir archäologische Zeitschriften, denn damals erlebte die Archäologie eine Blütezeit. Die Lehrerin nahm mir die Zeitschriften ab und versprach, sie mir in der darauffolgenden Stunde wiederzugeben. Sie hielt Wort und sagte: »Du darfst dir die Bilder ausschneiden und in dein Heft kleben. Und zeig sie den anderen Mädchen. Vielleicht hat die eine oder andere etwas davon.«
    In der Abschlussprüfung zum Trimesterende erreichte ich 100 von 100  Punkten, weil ich alles auswendig gelernt hatte. Innerhalb von einem Monat war alles wieder vergessen. Ich hatte das Prüfungstalent meiner Mutter geerbt. Sie betonte in einem fort: »Ich war immer die Beste, weil ich ein gutes Gedächtnis hatte. Du bist genauso wie ich.« Ihr ständiges
Du bist genauso wie ich
brachte mich zur Weißglut.
    Ein paar Monate lang hatte ich auch Englisch bei dieser Lehrerin, da schrieb ich, oder vielmehr »Tigger«, einen Aufsatz über ihre Unterrichtsmethoden. Ich dachte, er würde ihr gefallen, weil er lustig war, aber sie zitierte mich zu sich, und ich musste mich vor sie hinstellen, während sie mich mit harten Worten herunterputzte. Ich fände mich schlau, ja? Aber da irrte ich mich gewaltig. Ich stand zitternd vor ihr. Ich hätte etwas von Gerechtigkeit und Wahrheit murmeln können – denn war ihre Person nicht von Generationen von Mädchen gefürchtet worden, und hatte sie nicht selbst dafür gesorgt, dass es so war? Aber ich schwieg verbiestert und feige. Draußen warteten Mädchen, die hören wollten, was sie gesagt hatte, und ich

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