Unter der Haut (German Edition)
um den Teelöffel oder die Wolljacke zu holen, als flüchtete sie vor einem Feuer oder einem Verweis von ihm, während er sie voll Unbehagen bittet: »Lieber Gott, meine Gute, bleib sitzen, es ist doch nicht so wild.« Sie machte sich wirklich kaputt. Sie saß nie still an einem Fleck. Und jetzt hörte ich sie mit dem »Boy« sprechen, die gleiche Abneigung in der schimpfenden, penetranten, ewig drängenden Stimme, die so viele weiße Frauen ihren Bediensteten gegenüber an den Tag legten – und es in einigen weißen Haushalten Südafrikas heute noch tun. Mein Vater konnte es nach wie vor nicht leiden, wie sie mit den Bediensteten umging. Er machte ihr Vorhaltungen. »Aber sie sind hoffnungslos, einfach hoffnungslos«, rief sie verzweifelt und mit hochrotem Gesicht.
»Ich will nicht, ich will nicht«, wiederholte ich stumm und suchte das Weite. Auch um dem Nörgeln meiner Mutter zu entkommen, die mir ständig damit in den Ohren lag, dass ich keine Zukunft hätte. Was wollte ich tun, jetzt, wo ich schändlicherweise von der Schule abgegangen war?
Wenn mein Bruder heimkam, nörgelte sie an ihm herum, weil er sie nicht an sich heranließ. Er war mittlerweile höflich und distanziert, gab sich den Anschein zuzuhören, ignorierte sie jedoch in Wirklichkeit. Er ging mit seinem Vater in die Felder und tat, was er konnte, aber sein eigentlicher Platz war in der Schule. Darauf musste er sich konzentrieren. Sie drängte ihn ständig, zur Marine zu gehen oder zur Armee, alles zu tun, um aus »diesem zweitklassigen Land« zu entkommen – in allem, was sie sagte, lag implizit die Forderung, er müsse aus
seiner
Heimat fortgehen, weg vom Busch, vom Land, von dieser Landschaft. Ich fragte ihn: »Warum gehst du nicht gegen sie an?« Aber seine Antwort lautete: »Ach, lass sie doch.« Er schien sich nicht viel zu Herzen zu nehmen. Jedenfalls nichts im emotionalen Bereich. Da blockte er alles ab. Und seine Eltern hießen bei ihm zu dieser Zeit bereits M. und D. Nicht Father und Mother oder Mummy und Daddy, nicht einmal Maude und Michael. Nein, sie hießen Em und Di und blieben es bis zu ihrem Tod, M. und D.M.ummy und D.addy. M.utter und V.ater.
Ich ergriff wieder die Flucht. Ich drohte lachend, finster oder trotzig damit, von zu Hause fortzulaufen. Oder vielmehr Tigger lachte, aber ich ging tatsächlich fort. Ich fuhr nach Umtali zu Familie James. Mrs. James war die freundliche Hausmutter aus Rumbavu Park. Sie wohnte mittlerweile gemeinsam mit ihrer Tochter Audrey, ihren beiden Söhnen und einem sanftmütigen kleinen Mann in einem winzigen Eisenbahnerhäuschen, das von einem üppigen tropischen Garten voller Guaven, Mangos, Pfirsiche und Granadillen umgeben war. Auch hier herrschte die Atmosphäre vornehmer Armut – kann man sich etwas Schlimmeres vorstellen? Ich habe sie in
Heimkehr
beschrieben. Erträglich wurde die Situation für mich nur dadurch, dass es hier eine »Gang« junger Leute nach amerikanischem Vorbild gab, die allesamt älter waren als ich, »zusammen gingen«, gemeinsame Ausflüge machten und Tanzveranstaltungen besuchten; sie waren mir um zwei Jahre voraus.
Mit jeder Post kamen Briefe von meiner Mutter. Sie waren von panischer Angst erfüllt. Sie waren chaotisch. Sie waren zehn bis zwanzig Seiten lang und warfen mir in jedem Absatz meine üblichen Untaten vor, meine Selbstsucht und meine Sturheit, sagten mir drohend mein unausweichliches Ende in den Bordellen von Beira voraus. »Da enden Mädchen wie Du, das wirst Du schon sehen.« Und das Seite um Seite. Dabei lebte ich in einer äußerst konventionellen Familie, in der man vor dem Essen betete und sich in jedem zweiten Satz seufzend auf Gott berief. Ich hielt es nicht aus, diese Briefe zu lesen, und hätte mir nicht vorstellen können, dass sie für mich eines Tages nur noch eines der vielen kleinen Symptome allgemein menschlichen Wahnsinns bedeuten würden.
Um diese Zeit geschah etwas, über das ich seitdem immer wieder habe nachdenken müssen. In einer Mission in Old Umtali wurde eines Nachmittags ein Fest veranstaltet, bei dem Schwarze wie Weiße mit Tee und Kuchen unter den Bäumen umherwandelten. Ich hatte noch nie einem gesellschaftlichen Ereignis beigewohnt, bei dem die Schwarzen mir gleichgestellt waren. Ich war hingerissen. Ich war neugierig. Ich fühlte mich bedroht und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich trat auf zwei alte Männer zu, die jeder mit einer Teetasse in der Hand dastanden, und schwatzte drauflos, machte höfliche
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