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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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prahlte damit, wie ich ihr dies und das ins Gesicht gesagt hätte. So reagieren Untertanen auf Tyrannen.
    Ich spielte immer noch Klavier, inzwischen etwa zwei Stunden am Tag, vor allem Tonleitern und Etüden. Die Lieder bei der Morgenandacht wurden grundsätzlich von einer Schülerin begleitet. Eines Tages kam die Schulleiterin zu mir und erklärte, das Mädchen, welches sonst spiele, sei krank und ich müsse einspringen. Panische Angst. Es war nicht so, dass ich es nicht konnte: Die Musiklehrerin zeigte mir, wie einfach es war, die linke und die rechte Hand aufeinander abzustimmen. Kinderleicht war es – schau, du machst es schon von selbst. Wozu also die Aufregung? Doch als es so weit war, spielte ich nur die Melodie. Ich konnte meine Hände einfach nicht koordinieren. Dieses
Ich kann nicht, ich kann nicht …
Meine Hände versagten ihren Dienst.
    Beim Konzert zum Trimesterende ging es in einem »Sketch« darum, dass ich die Begleitung zu einem Kirchenlied nur mit einer Hand gespielt hatte. Es war mir unsäglich peinlich. Alle Prüfungen als Beste bestanden zu haben und die schlaue Tigger Tayler zu sein zählte nichts angesichts dieses Versagens. Ich gab das Klavierspielen – nach vielen Jahren teurer Unterrichtsstunden – von einem Tag auf den anderen auf, genau wie ich mich vom Glauben abgewandt hatte. Das war’s.
    Eines Vormittags holte man mich aus dem Unterricht. Auf der Veranda stand meine Mutter, fein gemacht mit elegantem Stadthut und Handschuhen, und verkündete: »Dein Vater hat Diabetes.« Dann senkte sie dramatisch die Stimme: »Er kann jeden Augenblick sterben.« Ich starrte vor mich hin, während sie auf eine passende Reaktion wartete. Der dramatische Ton lähmte mich. Ich hatte längst aufgehört, auf ihre stets theatralischen Mitteilungen zu reagieren. Ich konnte sie nicht ertragen.
    Da ich nichts sagte, machte sie kehrt und ging zu dem alten Auto voran, in dem ein völlig abgemagerter Mann saß, der sich am Türgriff festhielt. Wo war mein Vater? Beinahe hätte ich es laut gefragt, konnte mich aber gerade noch bremsen. Ich sah ihn, der mich noch nie im Stich gelassen hatte, Hilfe suchend an, aber seine alten, trüben, kranken Augen schienen mich nicht wahrzunehmen.
    »Er ist sehr krank. Er muss dreimal am Tag Insulin bekommen«, verkündete meine Mutter und setzte sich wieder neben ihn auf die Rückbank. Ein Nachbar fuhr. Das Auto verschwand durch die Jakaranda-Allee. Ich stand stumm da. Wie üblich hatte ich keine passende Reaktion zustande gebracht. Jetzt hätte ich etwas Angemessenes sagen können – zu ihm, nicht zu ihr, die ich ohnehin immer enttäuschte. »Armer Papa. Es tut mir so leid.« Aber das war nicht der richtige Ton für jemanden, der sterben musste.
    Die Briefe, die sie mir zweimal wöchentlich schickte, enthielten von nun an mehr als nur Nachrichten von der Farm. Sie handelten stets von ihm. Wenn er auch nur ein Jahr früher zuckerkrank geworden wäre, hätte er sterben müssen wie das Kind der Lattys. Das eben entdeckte Insulin, ein Extrakt aus der Bauchspeicheldrüse der Kühe, würde ihn retten. Aber er war nicht in der Lage, die Farm zu führen, was sollten wir tun? Natürlich konnte Harry ihm in den Ferien unter die Arme greifen, aber einen Verwalter konnten wir uns nicht leisten. Einige der Proben aus dem anstehenden Gestein am Rand des großen Feldes hatten vielversprechend ausgesehen, und vielleicht würden wir diesmal auf eine Goldader stoßen und … Die Briefe überstürzten sich nur so, sie muss sich Abend für Abend hingesetzt und geschrieben haben, Blatt um Blatt ihres blauen Croxley-Blocks voll, die große Lampe neben ihrem Ellbogen, die Hunde zu ihren Füßen, die Katzen … Und mein Vater? Nach einer Weile konnte ich die Briefe nicht mehr lesen. Was war das für eine Frau, die mir schrieb? Ich erkannte die Verfasserin nicht wieder. »Natürlich machst Du Dir nichts aus mir, das hast Du nie getan, Du machst Dir nichts aus Deinem Vater, das Einzige, was Dir wichtig ist, bist Du, Du bist durch und durch selbstsüchtig. Dass Du einfach mir nichts, dir nichts mit Deinen Klavierstunden aufgehört hast, ich habe mir ausgerechnet, was sie uns über die Jahre gekostet haben, Du weißt, dass wir sie uns nicht leisten konnten, wir können uns nicht leisten … wir können uns nicht leisten … und jetzt muss ich Deinem Vater eine Spritze geben, ich habe die Dosis ein biss- chen reduziert, wir werden sehen, wie es geht.« Und so weiter, seitenlang, zehn, zwölf,

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