Unter der Haut (German Edition)
gewöhnlichen Mädchen nur Verkäuferin oder Kartenabreißerin im Kino werden. Ich habe es immer bemerkenswert gefunden, dass meine Mutter mit ihrer ständigen Sorge darum, wer nett und wer weniger nett und wer zu gewöhnlich war, so wenig Einfluss auf mich hatte, dass die Ermahnungen der Hausmutter auf mich bloß absurd wirkten. Der demokratische Geist in der Kolonie war zu viel für sie. (Demokratisch für die Weißen, heißt das.) Zum Beispiel war es damals – wie schon seit der Gründung der Kolonie – üblich, dass die wohlhabenderen Farmer sonntags einen Tag der offenen Tür veranstalteten, zu dem jeder willkommen war: Farmgehilfen, der Mechaniker aus der Autowerkstatt, der Polizist aus dem Ort, die Not leidenden Farmer. In den Städten ging es bereits snobistischer zu, eine Entwicklung, die sich in der darauffolgenden Zeit noch verstärken sollte.
Diese gewöhnlichen Mädchen, sieben, acht oder mehr, bildeten eine Clique, laut, frech, überheblich und allen anderen gegenüber gleichgültig, vor allem gegenüber der Hausmutter, die lauthals ihre Verachtung äußerte. Ihre Heldentaten fanden allgemeine Bewunderung, und es ging dabei immer um Jungen. Uns war jeder Kontakt mit unserer Partnerschule, Prince Edward’s, verboten. Dort liefen lauter langbeinige, stinkende, rohe, schlaksige, heisere, johlende Flegel herum, die genauso waren wie mein Bruder, wenn er mit Gleichaltrigen zusammen war. Es waren auch weniger die Jungen, die uns beeindruckten, als die Abenteuergeschichten, die mit ihnen zu tun hatten. So steckten besagte Mädchen, unsere Vorbilder, den Jungen in der Kirche oder wenn sie zufällig zur selben Zeit in langen Zweierreihen durch dieselbe Straße liefen, Briefchen zu. Sie behaupteten außerdem, dass sie nachts aus dem Fenster kletterten und durch das Gebüsch schlichen, um sich mit den Jungen zu treffen, und sogar, dass sie mit ihnen ins Filmtheater gingen. Letzteres war der Beweis, dass sie logen, weil im kleinen Salisbury jeder, der die Schule verließ, aufgefallen wäre. Aber egal, es war eben wie auf allen Mädchenschulen. Modezeitschriften wurden ausgetauscht. Fotos von Filmschauspielern wanderten von Hand zu Hand wie pornografische Bilder. Fressgelage nach dem Zubettgehen mussten ins Widerliche ausarten, um die Eltern zu entsetzen – Sardinen mit Kondensmilch oder
biltong
mit Marmelade. In unseren Prahlereien fanden diese mitternächtlichen Gelage fast täglich statt, aber in Wirklichkeit waren sie selten, genau wie die Abenteuer mit den Jungen. Die tonangebende Gruppe, die sich so ordinär gab, war stolz darauf, schlechte Noten zu haben, aber in dieser Hinsicht eiferte ihnen keine nach. Es war in Ordnung, eine gute Schülerin zu sein.
Es gab auch die üblichen Schikanen. Für Liebeleien waren die Filme das Vorbild. Ein Mädchen, das älter war als ich, lockte mich auf einen Balkon, ohne dass ich zunächst begriff, wozu, und führte sich auf wie ein Filmliebhaber, wie Ronald Colman. Sie flüsterte mir mit einschmeichelnder Stimme ins Ohr, dass ich schön sei, mein Haar so und so sei, ich liebe dich, liebst du mich auch? Ich war verlegen. Es gab Paare, von denen man wusste, dass sie sich »mochten«. »Betty und Barbara mögen sich, oder?« Sie saßen auf den Treppenstufen, die Arme einander um die Schultern geschlungen, und blödelten in der Babysprache. Niemand kam auf den Gedanken, sie für lesbisch zu halten. Als »Tigger«, wie üblich scherzend, in den Ferien ihren Eltern davon erzählte, regte meine Mutter sich auf und kündigte an, sie wolle die Hausmutter darauf aufmerksam machen, während mein Vater ihr sagte, sie solle nicht so übertreiben.
In einem Trimester gründete ich eine Hauszeitschrift, die ich auch herausgab und größtenteils selber schrieb. Sie enthielt eine Klatschspalte und Verse über prominente oder beliebte Persönlichkeiten. Die Seiten zirkulierten in der Rohfassung im Schlafsaal, und eine Abordnung der größeren Mädchen bat mich, dies oder jenes zu streichen. »Wir wollen doch nicht, dass die Hausmutter davon erfährt, oder?« Ich war schockiert. Ich war entsetzt. Die Wahrheit war das Höchste, es gab ein Recht auf Wahrheit, man musste die Wahrheit sagen … Aber ich strich die Stellen, die sie markiert hatten. Meine erste Erfahrung mit der Zensur. Die Tyrannei hatte gesiegt.
Was ich
sehe
, wenn ich zurückschaue, ist ein emsiges, hart arbeitendes Mädchen, das sich bereitwillig anpasst, wohlgelitten sein möchte, eine beste Freundin haben möchte
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