Unter der Haut (German Edition)
weil sie nicht ordentlich ernährt würden und keine anständigen Unterkünfte hätten, und dass man sie in die Schule schicken solle. Jeder revolutionäre Brief dieser Art schürte das Feuer, und die nächste Leserbriefseite war voller Beiträge, die mit »An Indignant« (»Ein Empörter«) oder »Thirty Years in the Country« (»Jemand, der seit dreißig Jahren im Land lebt«) oder »Pioneer’s Wife« (»Ehefrau eines Pioniers«) unterschrieben waren und behaupteten, die Eingeborenen wüssten nichts anderes zu schätzen als das, was sie hätten, ansonsten verdienten sie eine tüchtige Tracht Prügel, oder die Schule werde sie nur noch fauler machen. Doch selbst wenn ich im Recht war, hatte ich noch nie jemanden kennengelernt, der meine Ansichten teilte, und auch keine Bücher gefunden, die mir weiterhelfen konnten. Gut,
Oliver Twist
handelte ebenso sehr von einem schwarzen Kind hier wie von einem armen Jungen in England, aber das war kein Argument, das einem Cyril Larner oder Bob Matthews oder Mr. McAuley eingeleuchtet hätte.
Meine Argumente waren plump und lächerlich, und das war mir bewusst.
Bald verkündete mein Vater, dass er es keinen einzigen Tag länger ertragen könne, den Kämpfen zwischen seinen beiden Frauen zuzuschauen. Er sagte, wenn ich nie auch nur ein gutes Wort für sie oder für ihn übrig hätte, warum ginge ich dann nicht einfach weg? Da ich inzwischen selber schwierige Teenager großgezogen habe, kann ich ihn heute verstehen.
Ich ging als Kindermädchen in die Nähe von Salisbury. (Damals bezeichnete »au pair« den Austausch von Töchtern aus reichen Familien, die auf diese Weise fremde Sprachen und Sitten lernen sollten.) Ich sehnte mich nach neuen Erfahrungen. Die mir angebotene Stelle klang so verheißungsvoll, dass sie selbst einen besonders erlebnishungrigen Teenager wie mich zufriedenzustellen versprach. Mrs. Edmonds, ein schönes, reiches Mädchen aus der besseren Gesellschaft von Vancouver, hatte sich unsterblich in einen armen, aber wohlgeborenen Farmer aus Rhodesien verliebt und ihn gegen den Protest der Familie geheiratet. Sie hatte gerade ihr zweites Kind bekommen, und ich sollte mich um den größeren, vier Jahre alten Sohn kümmern. Das Haus lag auf einem Hügel, durch ein kleines Tal von Rumbavu Park getrennt. Dort nahm ich meine Tätigkeit als Versorgerin kleiner Kinder auf, bei der ich mit kleineren Unterbrechungen etliche Jahre blieb. Das Kind, das nie einem Baby oder Kleinkind in Reichweite hatte widerstehen können (»Komm mit mir kuscheln«), hatte jetzt einen wonnigen, klugen und zugänglichen kleinen Jungen, Marcus, als Schützling. Ich liebte ihn abgöttisch. Er hatte mich auf die lässige Art kleiner Kinder gern, die schon eine Reihe Kindermädchen und Babysitter hinter sich haben und sich problemlos auf neue Menschen einstellen. Mrs. Edmonds war wirklich schön, ihre Haut weich wie Buttermilch und mit kleinen Sommersprossen übersät, rotbraune Haare, eine gertenschlanke Figur – vom Typ her ganz meine Freundin Mona aus der Klosterschule, die dünn und knochig war und so viele Sommersprossen hatte, dass man die helle Haut dazwischen kaum sah. Monas Haare waren immer stumpf und strähnig gewesen. Ich wusste jedoch, dass sie, die immer so auftrat, als wollte sie sich für ihr Dasein entschuldigen – ihr Vater war Alkoholiker, ihr Zuhause kaputt –, mit dem entsprechenden Geld genauso schön hätte sein können wie Mrs. Edmonds. Mrs. Edmonds war eine weitere Frau, die mir vor Augen führte, wie tüchtig meine Mutter war. Sie jammerte und stöhnte sich in Crêpe-de-Chine-Negligés durch die Aufgaben des Lebens und ließ sich von allen Seiten bedienen. Ihr neues Kind war etwa eine Woche alt, ein »braves« Baby, und wurde bereits von einer Kinderschwester betreut. Heute, da ich eine Menge Frauen kennengelernt habe, die eine Tugend aus ihrer Hilflosigkeit machen, frage ich mich, was mit Mrs. Edmonds los war. Immerhin behandelte ihr attraktiver Ehemann sie stets aufmerksam und besorgt wie eine Kranke. Sie waren ja so arm! – stöhnten sie unablässig. Ich hatte so viel von Armut reden hören, dass ich nicht hinhörte, nicht hinhören konnte. Mittelschichtsarmut ist nie so einfach, wie es scheint. Das führt mich zu meiner Eingangsfrage, meiner Suche zurück: Was war ihnen versprochen worden und von wem, dass sie sich so im Stich gelassen fühlten?
Schon bald übernahm ich neben dem Kinderhüten noch zahlreiche andere Aufgaben, denn Marcus beanspruchte
Weitere Kostenlose Bücher