Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
Vom Netzwerk:
Jahre später ausbrach, wurde er Soldat und kam bald darauf in Nordafrika um.
    Ich hatte in jenem Jahr einen Verehrer, den ich so schamlos ausnutzte, wie Mädchen das eben tun. Er war der älteste Sohn der Watkins, in meinem Alter, ausgesprochen dick, langsam, liebenswert und, so hoffe ich, nicht so quälend verliebt wie ich. Er begleitete mich zu allen Tänzen und
gymkhanas
, und meine Mutter litt Höllenqualen, weil sie befürchtete, dass ich diesen Jungen womöglich heiraten könnte, der auf der sozialen Leiter etwa tausend Stufen tiefer stand als der Mann, den sie sich für mich erhoffte.
    Mein Bruder und ich fanden das Haus der Watkins immer faszinierend. Zwischen Granithügel gebaut, war es entweder extrem heiß oder extrem kalt, und bei Sturm sprangen Kugeln aus Licht über die Veranda und verschwanden mit einem
ping
ins Telefon. Damals hatte die Wissenschaft die Existenz dieser Kugelblitze noch nicht anerkannt. Mein Bruder war einmal bei Sturm dort. »Wie ein kleiner Fußball«, sagte er, »sie springen wie sonst was.« Der Sohn der Watkins aber interessierte sich weder für die Blitze noch für die Farm. Ich erkannte mich in ihm wieder: Er wollte nur fort, egal wohin. Fort aus der beengenden Welt der Kindheit.
    Im Dorfsaal fanden in jenem Jahr Tanzveranstaltungen statt. Plötzlich gab es jede Menge junge Leute, eine neue Generation, die von meilenweit her nach Banket gefahren kam, um zur einschmeichelnden und berauschenden Musik der dreißiger Jahre, gespielt auf einem aufziehbaren Grammofon, zu tanzen. Mein junger Kavalier und ich, wir konnten nicht tanzen, ich, weil ich zu linkisch, er, weil er zu schüchtern war, und so blieben wir am Grammofon, stellten es an, legten Platten auf und sahen den Älteren zu, wie sie einander steif umschlungen über die Tanzfläche schoben. Die jungen Männer, die sonst nie etwas anderes trugen als alte Kakihemden und Shorts, steckten in hässlichen Anzügen, aber die jungen Frauen schimmerten pastellfarben wie Speiseeis in dem hässlichen, staubigen Saal. Modern waren schräg geschnittene, eng anliegende Crêpe-de-Chine- oder Satinkleider in Weiß, Blassblau oder Rosa, mit einer Perlenkette im vorderen V-Ausschnitt oder einem gewagten Knoten im Nacken, wobei die Kette lang über einem taillentiefen Rückenausschnitt baumelte. Es tanzten die Söhne und Töchter aus dem Postamt, der Autowerkstatt, dem Gemischtwarenladen, vom Bahnhof und von den umliegenden Farmen.
    Wenn bei den
gymkhanas
die Pferde vorübersausten, stand ich mit dem Sohn der Watkins am Zaun, und er starrte mich an, während ich an ihm vorbei zu meiner unerreichbaren Liebe hinüberspähte, zu meinem Helden, der sich, ganz Kavalier, um die Frau seines Chefs kümmerte, eine sanfte, unglückliche Frau mittleren Alters, die in ihn verliebt war – wie mein Vater ebenfalls beobachtet hatte –, aber er konnte sich nicht enthalten, dem abgewandten Gesicht der schlanken, blonden Reiterin, die nur ein paar Schritte entfernt am Zaun lehnte und auf das nächste Rennen wartete, Blicke zuzuwerfen. Ehe sie, ihre Reitpeitsche hinter sich herschleifend, davonschlenderte, drehte sie sich um und schenkte ihm ein kühles Lächeln. Diese Szene ist mir im Kopf geblieben, unter der Überschrift: Die Liebeskomödie. Goya, glaube ich.
    Oder wir saßen nebeneinander bei einem Gastkonzert aus Salisbury, in demselben, nun bestuhlten Saal, und ich biss mir auf die Zunge, um nicht zu sagen, was ich von der schwerfälligen Darbietung hielt, denn er fand sie wundervoll. Auch er kam in Nordafrika bei den Kämpfen gegen Rommel um, bald nach Ausbruch des Krieges.
    Mein Vater machte aufgrund seines Diabetes in jenem Jahr einige schwere Krisen durch. Wenn es wieder so weit war, fuhr ich ihn mit meiner Mutter über die schrecklichen Straßen nach Salisbury, und er verschwand ins Krankenhaus, während ich unter den Bäumen im Auto sitzen blieb und wartete. Stundenlang. Die Beschwerden waren mittlerweile nicht mehr allein durch die Zuckerkrankheit selber verursacht, sondern durch die Begleiterscheinungen, die man heutzutage besser im Griff hat, die aber immer noch schlimm genug sind.
    Es war das Jahr, in dem ich mir Maschineschreiben und Stenographie beibrachte.
    Es war das letzte Jahr, in dem ich als ein Geschöpf des Busches mit dem Busch verschmolz, wo ich mich mehr zu Hause fühlte als jemals seitdem in einer Straße oder einer Stadt. Mein letztes Jahr als Farmerstochter, die alles anzupacken verstand: Die primitiven Einrichtungen von damals

Weitere Kostenlose Bücher