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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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fördere er lediglich den allgemeinen Wohlstand.
    Ich arbeitete ein Jahr lang im Fernsprechamt. Den meisten Leuten ist nicht wohl dabei, wenn ich erzähle, dass ich in der Telefonvermittlung gearbeitet habe. Sie scheinen der Ansicht zu sein, dass ich besser daran täte, diese unglückliche Episode zu vergessen. (Durch das vornehme »au pair« wird die Arbeit als Kindermädchen gesellschaftsfähig.) Mir gefiel die Stelle aber sehr gut. Zumindest verstehe ich seitdem absolut, warum Frauen, die gefragt werden, warum sie sich mit anspruchsloser, eintöniger Arbeit abfinden, antworten: »Aber da kann ich doch meinen eigenen Gedanken nachhängen.«
    Ich brauchte einen Tag, bis ich die Arbeit beherrschte. Es war wie beim Radfahren, das auch sofort automatisch geht. Ich glaube, ein Fernsprechamt dieser Art könnte es heute nur noch in ganz abgelegenen Orten Afrikas oder Lateinamerikas geben. Man trug Kopfhörer. Vor einem lag eine waagerechte Platte mit Steckern an Drähten, die zog man heraus und steckte sie in Löcher an der senkrechten Platte dahinter – und verband auf diese Weise Teilnehmer in Südrhodesien mit Johannesburg oder Kapstadt oder sogar London. Dann gab es die Gemeinschaftsanschlüsse der Farmen, die an einer Straße lagen. Eine Farm mit Gemeinschaftsanschluss, sagen wir bei Salisbury, mit einer zweiten bei Sinoia zu verbinden konnte den halben Vormittag dauern, weil die Farmbewohner meistens irgendwo draußen auf den Feldern oder bei den Tieren waren und das Telefon nicht hörten. Wenn nichts los war, las ich, ohne daraus viel Hehl zu machen. Ich las dort
Auferstehung
in dem Bewusstsein, dass jedes Wort auch hier, auf dieses »junge« Land, zutraf, auf Leute, die ich wahrscheinlich kannte. Was ich heute interessant finde, ist die Tatsache, dass ich mir erst durch den Umweg über die Literatur beispielsweise darüber Gedanken gemacht habe, dass die plötzlich einsetzende Reue des Landbesitzers und sein Bild von sich selbst bei Tolstoi religiös motiviert waren.
    Im Fernsprechamt arbeiteten etwa zehn junge Frauen, und es gab eine Vorgesetzte. Kollegial, das ist das richtige Wort für das Leben im Amt. Unlängst begegnete ich einer Frau, die mir erzählte, dass sie meine Stelle übernommen habe, als ich heiratete. Als ich sie fragte, wie es ihr dort gefallen habe, sagte sie, anfangs sei es furchterregend gewesen, aber ich hätte Geduld mit ihr gehabt. Ich sei ruhig und nachdenklich gewesen, sagte sie. Darüber freute ich mich, denn ich erinnere mich in erster Linie an »Tiggers« fröhliche Schwatzhaftigkeit – dieser Teil meiner Persönlichkeit war es nämlich gewesen, der dafür sorgte, dass sich mein gesellschaftliches Leben hauptsächlich um Tanzen und Trinken drehte.
    In diese Zeit fällt die in
Martha Quest
mehr oder weniger unverfälscht geschilderte Begegnung mit Salisburys Linken, den Roten. Von ihnen sprach man in der Stadt voll Ablehnung und mit gesenkter Stimme, denn sie waren aufrührerisch, gefährlich und vor allem kaffernfreundlich. Dorothy Schwartz, die später meine Freundin wurde, fing mich eines Nachmittags vor dem Fernsprechamt ab, um mir zu sagen, dass sie von meinem Interesse am Eingeborenenproblem gehört habe und dass ich vielleicht die Leute vom Left Book Club kennenlernen sollte. Es handelte sich um einen Haufen rückgratloser Sozialdemokraten, aber fürs Erste besser als nichts. In der Provinz lohnt es sich nicht nachzufragen, wie jemand von einem gehört hat. Dank der Langeweile blüht der Klatsch.
    Jener erste Nachmittag verlief für mich so enttäuschend, dass ich übertrieben reagierte. Allerdings darf man dabei nicht vergessen, dass diese Leute die Avantgarde gesellschaftlicher Wagnisse und kritischen Denkens verkörperten. Am schlimmsten waren die Frauen. Sie waren alle wie Zigeunerinnen zurechtgemacht, mit baumelnden bunten Holzperlenketten, langen Leinenröcken und Piroschkablusen. Sie beklagten sich den ganzen Nachmittag über ihr schweres Los und richteten ihre Klagen an die reumütigen Männer, die schuld seien, dass sie in ihren Gärten auf dem Rasen säßen und vor lauter Kindern nicht dazu kämen, sich selbst zu verwirklichen. Männer waren die Übeltäter, Männer waren Verbrecher. Hatten sie denn nicht heiraten wollen? – bezichtigte ich sie (stumm). Hatte man sie gezwungen, diese Kinder in die Welt zu setzen? Wer hatte ihnen die Pistole auf die Brust gesetzt? (Zwei, drei Jahre später hätte ich gesagt, der Krieg.) Hatten sie nicht, sogar bei diesem Treffen,

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