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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Kater, nicht so schlimm, dass ich mich nicht mehr bewegen mochte, aber so, dass ich mich elend und schlapp fühlte. Die jungen Männer gingen ständig auf Tour. Trunkenheit war ein Spaß. Schwärme von beflissenen Mädchen brachten Jungen, die sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken hatten, zu Bett, manchmal einen nach dem andern – ganz mütterlich: Jungen sind nun einmal so. Vor gar nicht langer Zeit saß ich in einer Kleinstadt in Irland dabei, als eine Hochzeitsfeier ihrem lauten Höhepunkt zustrebte. Die Männer waren völlig hemmungslos und tranken, bis sie umfielen, während die Frauen gelangweilt und geduldig herumsaßen, jede mit einem Glas Sherry in der Hand, und auf den Moment warteten, wo sie die Männer auf dem Heimweg stützen und ins Bett bringen mussten.
    Alles, was ich über die Sitten und Gebräuche dieser Zeit zu berichten wusste, findet sich in
Martha Quest
und ist, wie es da steht, »wahr«, jedenfalls mehr oder weniger. Die Atmosphäre stimmt, Vorlieben, Beschaffenheit und Beigeschmack stimmen, aber manchmal ist eine Figur aus mehreren Menschen zusammengesetzt, und natürlich ist die Geschichte entrümpelt worden. Jeder Roman ist eine Geschichte, während das eigene Leben eher aus einem Haufen Episoden besteht.
    Wie viel ich doch in dieses eine Jahr gepackt habe! Ich vermittelte nicht nur Telefongespräche, tanzte, nähte Kleider und ging ins Kino, ich las auch. Ich las Unmengen. Immer noch Lawrence, denn er hatte damals etwas Berauschendes für mich, das ich heute in seinen Büchern nicht mehr finde. Thoreau und Whitman. Virginia Woolf war zu Olive Schreiner hinzugekommen. Ich hatte das Gefühl, zwei ältere Schwestern zu haben – eine Rolle, die ich, wie man mir sagt, jetzt für einige junge Leute spiele, nicht nur für Frauen. Wenn mich die Leute in meiner Umgebung nicht verstanden, dann ging ich zu Virginia und Olive. Was hätte Virginia Woolf von Olive Schreiner gehalten, frage ich mich. Oder Olive von Virginia? Das ist ein Gedankenspiel wert. Ich las Bücher, für die ich zu jung war, Carlyle, Ruskin und Renan zum Beispiel. Aber die Russen, die brachen in mein Leben ein wie ein Donnerschlag, Tolstoi, Dostojewski, Tschechow, Turgenjew, Bunin und all die anderen. Ich lebe immer noch mit ihnen. Proust. Thomas Mann. Stendhal, eine immer schneller werdende Achterbahn der Entdeckungen aus immer neuen Paketen aus London. Mrs. – ich habe ihren Namen vergessen – brachte mir wieder einmal ein Paket und sagte: »Ich habe gestern Abend Licht unter Ihrer Tür gesehen. Sie sollten aber keinen Raubbau mit Ihrer Gesundheit treiben.« Aber eigentlich wollte sie reden, und so saß ich in diesem Jahr außerdem viel auf der hinteren Veranda und redete mit – einer Witwe? Einer verlassenen Ehefrau? Sie hatte ihr Leben auf Farmen und Minen verbracht, und jetzt war sie allein und wollte mir Tee kochen und mir sagen, dass mein Tanzkleid hübsch sei und dass sie als junges Mädchen auch so eins gehabt habe. Sie bemutterte mich. Wenn meine Mutter völlig aufgelöst angerauscht kam, weil sie die schlimmsten Befürchtungen hegte, was ich womöglich alles anstellte, konnte es passieren, dass sie mich im Gespräch mit meiner Wirtin vorfand, die sie sogleich nach meinem Lebenswandel ausfragte. »Sie kommt wohl keinen Abend vor zwölf oder so nach Hause?« »Na ja, aber junge Leute müssen sich austoben.« »Du trinkst zu viel!«, bezichtigte sie mich. Unsinn, sagte ich und meinte damit, nur so viel wie die andern. Und natürlich lag in meinem Trinken damals etwas Widersprüchliches. Ich konnte wenig vertragen, und das hat mich wahrscheinlich gerettet. Auf die Idee, dass man das Trinken auch trainieren könnte, bin ich nicht gekommen, ebenso wenig wie auf andere Ideen, die mir nützlich gewesen wären. Wie die Tatsache, dass die Einstellungen zu Mädchen sich exakt nach der Menge und der Qualität der vorhandenen Mädchen richten. Oder die vielen anderen Dinge, die ich so schmerzlich durch eigene Erfahrungen lernen musste.
    1938 und 1939 hatten meine Vorstellungen von meiner Person und meinen Möglichkeiten wenig mit der Realität zu tun. Ich schwamm in einem Strudel der Emotionen, öffentlich wie privat – als könnte man dazwischen trennen. Meine als Kind erlebte Konditionierung für den Krieg wurde durch die Zeitungen aus England, die BBC , das rhodesische Radio verstärkt – durch alles, was die Leute redeten. In den Stimmen aller Männer (und alsbald auch aller Frauen), die in einem Krieg

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