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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Wie wir alle, die wir nach den verführerischen, mitreißenden Melodien der zwanziger und dreißiger Jahre tanzten. Hat schon jemand mal die möglichen Auswirkungen untersucht – ich meine
wirklich
untersucht –, die dadurch entstehen, dass ganze Generationen junger Leute unablässig von den Rhythmen berauschender Musik getrieben sind? Und – aber damit treten wir in Sphären ein, die gemeinhin als »mystisch« bezeichnet werden – es ist bestimmt nicht ohne Bedeutung, dass die ganze Welt, oft sogar gleichzeitig, zu denselben Melodien tanzte.
    I’ve got you under my skin
    I’ve got you deep in the heart of me
    So deep in my heart
    You are really a part …
    Ja, manchmal wundere ich mich.
    Eine Begebenheit. Ich trage ein Abendkleid aus schwarzem Samt, das ich erst nachmittags genäht habe. Es war aus Baumwollsamt: Schon ein Jahr später würde ich den Stoff befühlen und für zu schlecht befinden. Das Kleid hatte den klassischen Schnitt der Zeit: rückenfrei bis zur Taille, mit einem Nackenband, vorne tief ausgeschnitten, an den Oberschenkeln eng anliegend und zum Saum hin leicht ausgestellt. Ein Mann, der um einiges älter ist als die Jungen aus dem Sports Club, sitzt auf einer Sessellehne und betrachtet mich mit einem Lächeln, von dem ich, weil ich zu jung bin, nicht weiß, dass in ihm das ganze Bedauern eines alternden Frauenhelden liegt. Die Tanzmusik pulsiert vom Tanzsaal her, und ich bin unruhig, tanze schon halb, will mich im Rhythmus verlieren.
    Heaven. I’m in heaven
    And my heart beats so I can hardly speak.
    And I seem to find the happiness I seek,
    when we’re out together dancing cheek to cheek …
    Er fragt: »Mit wem sind Sie hier?« Ich antworte: »Soundso.« »An so einen kleinen Jungen ist dieses Kleid verschwendet«, sagt er lächelnd, einen bitteren Zug um den Mund. Er dreht mich mit der Autorität männlicher Sexualität einmal um meine eigene Achse und wird mit dem nächsten Atemzug ein anderer. »Tragen Sie einen Büstenhalter?« »Nein.« »Einen Schlüpfer?« »Selbstverständlich«, antworte ich entrüstet. »Tja«, verkündet er, »Sie haben eine ausgezeichnete Figur. Aber wie schade, dass Ihre linke Brust einen Zentimeter tiefer ist als die rechte.« »Ich denke, damit werde ich leben können.« »Das denke ich auch.«
    Diese kleine Anekdote erfüllt wahrscheinlich den gleichen Zweck wie die Jugendbilder, die ältere Frauen so aufstellen, dass jeder Besucher sie einfach sehen muss. Was sie damit sagen wollen, ist: Denken Sie nicht einen Moment, dass ich die alte Hexe bin, die Sie hier auf diesem Stuhl vor sich sehen, kein Stück, in Wirklichkeit bin ich die auf jenem Bild da.
    Viele Jahre später teilte ich mir aus irgendeinem Grund ein Zimmer mit einer hübschen jungen Frau von zwanzig Jahren, die mehr als üblich von ihrem Körper eingenommen war. Sie ließ das Handtuch, in das sie gehüllt war, absichtlich fallen, um ihren wunderschönen Rücken zu zeigen. Sie drehte sich mit einem Lächeln halb zu einem abseitsstehenden unsichtbaren Betrachter ihrer Vollkommenheit um, damit ich Brüste zu sehen bekam, die vielleicht, vielleicht auch nicht, um einen Zentimeter asymmetrisch waren. Sie lächelte mich kühl und triumphierend an und verließ das Zimmer. Mich zerriss der Schmerz um das, was ich verloren hatte. Nicht zuletzt, weil ich wusste, dass ich mindestens genauso arrogant und grausam gewesen war wie dieses Mädchen.
    Eine junge Frau, deren Sinne von der Musik geweckt sind, die auf einer niederen Stufe mit jeder Faser auf das Kriegsgetrommel reagiert, eine junge Frau, die in ihren eigenen Körper verliebt ist – die hatte keine Chance, ihrem Schicksal zu entkommen, dem Schicksal, das sie mit allen jungen Frauen ihrer Zeit teilte. Wenn ich mich damals so nüchtern hätte betrachten können, wie ich das heute tue … Aber nein, das hätte mich auch nicht gerettet. Es hat keinen Sinn zu sagen: Ich
will
nicht – wenn die Schicksalsgöttinnen zum Krieg aufspielen, mit Tanzmusik locken …
    Die Natur (die Erdgöttin Gaia? Die Lebenskraft?) bereitete uns darauf vor, die Bevölkerung, die alsbald dezimiert werden sollte, wieder zu verstärken. Aber sie wurde, zumindest in Großbritannien und Amerika, gar nicht dezimiert, also reagierte die Natur (Die Große Reguliererin? Die Große Mutter?) vielleicht auf den letzten Krieg, den Ersten Weltkrieg, den Krieg, der alle Kriege hatte beenden sollen, mit seinen Millionen Toten, genau wie Generäle immer gut gerüstet sind, den

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