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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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war. Und war erleichtert. Der Konflikt war ausgestanden. »Ich würde nicht einmal mehr meine Frau oder Schwester operieren – niemanden«, sagte er, »so spät nicht mehr.«
    Ich bedankte mich. Die Griffiths zahlten die Rechnung. Mir war klar, mit welch knapper Not ich davongekommen war.
    Man sagt, jede Frau habe ihre Abtreibungsgeschichte. Dies ist meine. Sie ist der Grund, weshalb ich bei Abtreibungsdebatten nicht weiß, für welche Seite ich Partei ergreifen soll. Mein Sohn John wäre nie auf die Welt gekommen, wenn ich mich nicht – Gott sei Dank – so dumm angestellt hätte. Im Nachhinein erscheint es mir offensichtlich, dass ich die ganze Zeit gewusst habe, dass ich schwanger war, im Bündnis mit der Natur gegen mich selbst. Ich denke an die Frauen, die ich kenne, die es sich vor einer Abtreibung anders überlegt und nie aufgehört haben, dafür dankbar zu sein. Ich denke an die armen Frauen, die jedes Jahr ein Kind bekommen und für die es keine Hilfe gibt. Sie werden alt und krank, und ihre Kinder sterben oder müssen Hunger leiden. Ich denke an die schmutzige Praxis mit der unehrlichen Frau in ihrem schmierigen weißen Kittel und weiß, dass verzweifelte Mädchen sich einer wie ihr anvertrauen müssen.
    Ich kehrte also schwanger heim und freute mich, und Frank freute sich, und der Sports Club juchzte und brüllte und trank auf ein gesundes Kind, und ich ging weiter tanzen. Doch tagsüber saß ich auf dem Sofa und hielt Zwiesprache mit dem Fötus, den ich an meinen langen, bedächtigen, fatalistischen Gedanken über den Krieg und die Unfähigkeit der Regierenden teilhaben ließ und an meiner Angst vor Hitler, dessen Gebrüll wir uns im Radio anhörten, während der deutsche Mob lauthals seine Einigkeit mit ihm bekundete. Im Sports Club und in den Hotels hörten sich stumme Menschenmengen die von der BBC übertragenen Nazikundgebungen an und fanden sich allmählich zu einer Entschlossenheit zusammen, die nichts mehr mit dem schon damals anachronistisch wirkenden wilden Johlen und Tanzen und Singen zu tun hatte. Es ist schon merkwürdig, stundenlang gebannt vor dem Radio zu sitzen und dabei die eigene Regierung zu verachten – denn was die Fragen dieser Zeit anging, war die britische Regierung schlicht die unsere –, die sich anscheinend von Hitler lähmen ließ und zu nichts anderem imstande war, als zuzusehen, wie ein unbesiegbarer Feind immer mächtiger wurde. Winston Churchill wurde noch immer wie ein verbohrter Abtrünniger behandelt. Am 25 . August wurde der englisch-polnische Beistandspakt in London unterzeichnet, aber Hitler ließ es darauf ankommen und fiel am 1 . September in Polen ein.
    An jenem Tag war ich auf einer Farm eben außerhalb von Salisbury zu einem Sonntagslunch bei einem anderen jung verheirateten Paar. Der Mann war seit Jahren mit Frank befreundet. Die Frau wurde genau wie ich in den Kreis der alten Männerfreundschaften integriert. Witze über Sex machten einen beträchtlichen Anteil der Unterhaltung aus. Während wir Witze machten, hörten wir im Radio, dass die deutschen Streitkräfte in Polen einmarschierten. Ich spürte die untergründig brodelnde hilflose Wut, aber auch den Jubel darüber, dass die Katastrophe, von der man mir mein Leben lang erzählt hatte, nun endlich eintrat. Aber die heimliche Freude am Leid sollte mir langsam vergehen, während die Wut, der Zorn und die nackte Ungläubigkeit stetig stärker wurden. Meine Einstellung am Ende des Krieges unterschied sich grundlegend von der am Anfang, und ich hatte nicht mehr das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, während das wirkliche Leben anderswo stattfand.
    Franks Freunde waren zwar in seinem Alter, aber schon solide und etablierte Männer. Für mich waren sie alt. Einer von ihnen war Tommy Wolton, er hatte vor Kurzem Ivy geheiratet. Sie war wie ich schwanger und wurde meine engste Freundin oder, wie wir zu sagen pflegten, meine bessere Hälfte.
    Wir verbrachten ganze Tage zusammen hinter zugezogenen Vorhängen und lauschten auf das Wachstum unserer Föten. Sie war Krankenschwester. Wir besaßen jede ein Handbuch mit dem üblichen sanft autoritär dargebotenen Expertenwissen für werdende Mütter und wussten auf den Tag genau, was unsere Babys gerade machten, ob ihnen Flossen oder Finger wuchsen, ob sie einen Schwanz abwarfen oder sich Fellschichten zulegten, ob sie sich wieder häuteten oder kleine Fuß- und Fingernägel bekamen. Ivy war eine dünne, nervöse Frau mit blassblauen Augen und blondem Haar, das

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