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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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lose auf der Unterlippe, verschwamm ihr Gesicht hinter Rauchwolken. Sie hörte mich nicht, wenn ich sie ansprach. Sie war dünn. Ihre Haare waren stumpf und strähnig. Die hübsche Blondine hatte zu einer gewissen Größe gefunden. Das starre Gesicht, der leere Blick – sie hätte als personifizierte Verzweiflung Modell stehen können. Sie war aus der kleinen Alltagswelt herausgehoben, sie lebte in allegorischen Gefilden der Antike.
    Meine Versuche, sie aufzurütteln, waren vergeblich: »Aber Ivy, die Hälfte aller Frauen müssen ihre Männer in den Krieg ziehen lassen.« »Aber du bist doch auch gut zurechtgekommen, bevor du Tommy kanntest, oder?«
    Sie starrte mich aus ihrem fernen Land an und merkte wahrscheinlich, dass da jemand dummes Zeug schwatzte. Sie war deprimiert, hatte regelrechte Depressionen, aber ich hatte davon noch nie gehört. Als ich viele Jahre später Menschen kennenlernte, die auf die gleiche Weise litten, verstand ich im Nachhinein, was Ivy gefehlt hatte. Dabei erwartete ich von ihr nicht, dass sie »sich am Riemen riss« – wie Mary es verlangte –, ich konnte nur einfach nicht glauben, dass sie so krank war, wie sie aussah. Weshalb sollte sie es auch sein?
    Wenn ihr Baby schlief, saß sie stundenlang auf einem Sessel – wenigstens schlief die Kleine –, und ansonsten kümmerte sie sich um das Kind nur, wenn sie musste. Sie selber schlief nicht. Ich ging nachts zu ihr und fand sie auf demselben Platz, an dem sie den ganzen Tag gesessen hatte, eine kalte Zigarette zwischen kalten Lippen, den Blick ins Leere gerichtet. Bald hörte sie es nicht mehr, wenn das Kind jammerte und quengelte. Von da an setzte ich mich häufig zu ihr ins Zimmer und hielt mein eigenes strampelndes und turnendes Kind in einem Arm fest, während ich mit dem anderen ihr Baby im Kinderwagen auf und ab schob. Wenn sie sich zu den Mahlzeiten nicht regte, fütterte ich beide Kinder nacheinander. Ich nehme schon an, dass sie wusste, dass ich da war.
    So ging es tagelang, während ihr Tommy ab und zu Briefe aus dem Camp schickte. Doch er selbst kam nicht. Dann spie der Krieg ihn wieder aus. Ivy war wie ein Stück Seetang, das schlaff auf einem Felsen liegt und dann von einer Welle emporgetragen wird. Sie lachte, sie weinte, sie kicherte, sie wusch sich die Haare, schminkte sich, liebkoste die Kleine, und als Mary sagte: »Wie ich sehe, hast du dich zusammengerissen«, entgegnete sie: »Ach, sei doch nicht so.« Und so fuhren wir drei Ehefrauen zurück nach Salisbury, mit unseren Männern in Zivil, um unser geregeltes Eheleben wieder aufzunehmen. Der Krieg liebt die Zwanzigjährigen. Frank war dreißig und hatte verkorkste Füße, Tommy fehlte irgendwas, Marys Mann war untauglich. Die Stadt schien voll von bitteren Männern zu sein, die wussten, dass das Leben an ihnen vorüberging, weil die Streitkräfte sie nicht wollten. Frank war am Boden zerstört. Er merkte mit einem Mal, dass seine Jugend vorbei war; nur alte Männer würden noch in der Stadt bleiben. Die Männer, die nicht in den Krieg durften, verbrachten ihre Zeit miteinander und tranken; sie brauchten ihr gegenseitiges Verständnis. Auch ich war nicht unfreundlich, sondern liebevoll. »Armer Frank, du tust mir so leid.« Aber ich war zu jung, um mir vorstellen zu können, was in ihm vorging.
    In
Eine richtige Ehe
wird der Mann tatsächlich nach Nordafrika eingezogen und dann wegen Invalidität entlassen. Schon bald kehrten Männer, denen es gelungen war, Magengeschwüre und andere Beschwerden vor den Armeeärzten zu verheimlichen, wütend und enttäuscht zurück. Sie trafen gleichzeitig mit den Nachrichten über unsere ersten Verluste in Nordafrika ein. Wenn ihre Angetrauten Sätze sagten wie: »Aber du hättest umkommen oder verwundet werden können«, empfanden sie das nicht als Trost.
    Die Veranda des Sports Club war voll von diesen Männern. Ich hörte und hörte zu, hatte ich das nicht schließlich vom anderen Krieg gelernt? Ich schob den Kinderwagen mit einer Hand auf und ab, hielt in der anderen eine Zigarette und lauschte. Ich spürte die Freude, ja den inneren Jubel, an dem eine Schriftstellerin erkennen kann, dass hier das Leben ihrer natürlichen Veranlagung, ihrem Talent entgegenkommt. Ich hatte damals noch kaum etwas geschrieben. Aber ich hörte zu, wählte aus –
erkannte.
    Die Geschöpfe eines Romanciers können den in ihrer Natur – der Natur des Romanciers – angelegten Verhaltensspielraum nicht sprengen. Das ist offensichtlich, sagen

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