Unter der Haut (German Edition)
Briefe waren, um es modern auszudrücken, Hilferufe. Für mich stellten sie eine Bedrohung dar. Meine Mutter war eine Bedrohung; eine halbe Stunde mit ihr zusammen machte mich vollkommen fertig. Nach einem Besuch von ihr legte ich mich ins Bett und schlief.
Inzwischen befand sich mein Bruder im englischen Dartmouth, wo er zum Marineoffizier ausgebildet wurde. Meine Mutter hatte ihr großes, ehrgeiziges Ziel erreicht – einen Sohn bei der Marine zu haben. Sie hatte Beziehungen spielen lassen, Briefe nach England geschrieben, ständig Ämter aufgesucht, gemahnt und gefleht. Und nun war er bei der Marine. Harry und Dick Colborne gingen zusammen nach Dartmouth. Später sagte Harry, dass man ihn in Friedenszeiten niemals genommen hätte. »Diese Johnnies von der englischen Marine wollten sich bloß einschmeicheln bei den Kolonien. Mussten ein bis zwei von uns zum Vorzeigen dabeihaben.« Er stellte fest, dass sein Bildungsstand bei Weitem nicht an den der anderen heranreichte. Um mithalten zu können, musste er jede freie Minute arbeiten, Tag und Nacht, aber er bestand das Examen, wenn auch mit knapper Not.
Briefe aus England brauchten Wochen. Er schrieb muntere, fröhliche Briefe an »M.« und »D.«. Ich habe einen Stapel davon. Er schrieb auch Verse. Von seinem Innenleben – seinen Gedanken, Gefühlen und dem, worunter er heimlich litt – stand nichts in diesen Briefen.
Ich schrieb Briefe an die Farm. »Liebe Mami, lieber Daddy. Es geht mir wirklich gut, und John macht sich. Er hat letzte Woche hundert Gramm zugenommen. Frank ist jetzt im Krieg. Alles Liebe.«
Von der Sekunde an, da das Baby abgestillt war, setzte ich mich auf Diät und nahm jede Woche einige Pfund ab. Ich hätte nicht angefangen zu hungern, solange ich noch stillte, und ich hätte dem Kind nicht einen Tag eher die Flasche gegeben, nur weil ich das Dicksein so hasste. Ich hätte nie und nimmer gemogelt, aber sobald mein Körper wieder auf sich gestellt war … Schnell hatte ich meine alte Figur wieder und passte in die glatten fließenden Kleider, die wir alle trugen, und wäre mit meinem glatten glänzenden Haar gern wieder auf die Sports-Club-Veranda gegangen, aber die Armee hatte gerufen, und die Männer waren alle unten bei Umtali in einem Camp zur Rekrutenausbildung.
Wir Frauen reisten ihnen sofort nach. Unsere Männer wollten jedoch nichts von uns wissen.
Ich wohnte in einem billigen Hotel, in einem hässlichen Zimmer, und es war Winter. In jenem Jahr, 1940 , herrschte wochenlang Nebel und Nieselregen. Ich bekam die Windeln nicht trocken. Das Baby wurde krank und hatte zum ersten Mal Verdauungsprobleme: sein Stuhl bestand aus großen, weißen Klumpen unverdauter Milch in gelbem Schleim. Es brüllte oder quengelte. Ich rief den Arzt an, einen jungen Mann, dessen Stimme ich entnahm, dass ich hysterisch war. »Was macht ihr Mädchen eigentlich alle hier? Wisst ihr nicht, dass sie eure Männer nicht aus dem Camp lassen?«
Ich ging in den Straßen von Umtali immer wieder auf und ab. Aus jedem Haus dröhnte Tanzmusik; in einem anderen Leben war ich hier einmal sehr unglücklich gewesen, weil ich zu jung war, um zu den Mädchen und Jungen in den Teenagergruppen zu gehören. Ich schob den Kinderwagen jeden Tag stundenlang unter den Feuerbäumen und den Jakarandas hin und her, und ich träumte davon, wie ein aus dem Camp geflohener Soldat mich sah, sich mir schüchtern näherte, ein Gespräch begann und – nein, ich würde mich nicht nach dem Wohlergehen meines Gatten erkundigen. Diese Tagträume waren so deutlich wie Szenen aus einem Film, doch es waren Mädchenfantasien, nicht die Träume einer jungen Frau. Wir würden uns unter den Feuerbäumen in den Armen liegen, Küsse voller Not und Pein tauschen, weil der Krieg uns trennen, Verzicht und Schmerzen bringen würde.
In einem weitaus besseren Hotel, dem Brown’s gerade um die Ecke, wohnte eine andere Ehefrau. Ich mochte sie nicht besonders, und sie mich auch nicht. Ein enger Freund von Frank hatte in England Urlaub gemacht und war mit dieser Frau als Braut zurückgekehrt. Sie blendete uns Einheimische, die wir stets bereit, ja darauf erpicht waren, uns blenden zu lassen. Als reiches Mädchen aus dem Mittelstand hatte sie »gute« Kleider von der Art, wie wir sie bewunderten, weil sie dem Stil nach genau zu den Frauen passten, die sie trugen. Sie war freundlich. Sie war kühl. Heute glaube ich, dass sie wahrscheinlich nicht gewusst hat, in was für ein Leben sie einheiratete.
In den
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