Unter der Haut (German Edition)
müde.
Dabei stand Müdigkeit nicht auf meinem Programm, wovon sollte ich müde sein?
Und als meine Mutter von der Farm herbeieilte, um mir zu sagen, wie verantwortungslos es von mir sei, so rasch ein zweites Kind zu bekommen, verteidigte ich mich, indem ich fragte: »Warum soll eine gesunde junge Frau nicht ein Kind nach dem andern kriegen, die schwarzen Frauen machen es doch genauso, oder?« »Aber, mein
Schatz …
« – und weg war sie, um meinem Vater ihr Herz auszuschütten, aber er war schon zu krank, um noch zuzuhören.
Wieder nähte ich die Kleidchen und Strampelhosen und füllte die Schubladen mit Windeln, die John schon nicht mehr brauchte. Er gehörte nicht zu den Kindern, denen ein nasser Hintern nichts ausmachte. Ohne viel Mühe meinerseits wurde er »trocken«. Oder »sauber«.
Die Monate schlichen dahin. Wir haben 1941 , der »Sitzkrieg« ist vorbei, der Zweite Weltkrieg tobt in ganz Europa, die Deutschen marschieren in Russland ein, und jeder sagt, dass damit das Ende Russlands gekommen ist, weil dessen Panzer aus Pappe sind. Nichts läuft gut für uns, die Alliierten. Hitler scheint nicht aufzuhalten zu sein.
Knapp vor der Geburt meiner Tochter wurde die Atlantikcharta beschlossen, ein Meisterstück des Politshowgeschäfts, dessen Zynismus bis heute seinesgleichen sucht. Roosevelt und Churchill trafen sich zur schlimmsten Zeit des Krieges, als die Deutschen Russland und den Balkan überrannten und Rommel in Afrika noch Siege feierte, mitten auf dem Atlantik. Die Atlantikcharta sollte von jedem studiert werden, der sich dafür interessiert, wie weit Staatsmänner in ihrer Verachtung für das Volk gehen können. Es ist alles aufgeführt, was sich jemals einer zum Wohle der Menschheit ausgedacht hat. Frieden. Recht auf Arbeit. Weltweit offene Grenzen. Leben ohne Hunger und Angst. Demokratische Rechte. In der Atlantikcharta wird nichts Geringeres versprochen als das Paradies für uns alle. Ihr unmittelbarer Vorläufer war die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. »Folgende Wahrheiten halten wir für selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.« Ich glaube, dass der Zynismus der Atlantikcharta eine der Hauptursachen für Churchills Niederlage nach dem Krieg war. Die Offiziere der Royal Air Force hatten nichts als Hohn und Spott dafür übrig: sie waren der schmutzigen, schrecklichen Armut im Großbritannien der dreißiger Jahre nur durch den Krieg entkommen, bloß um dann nach Südrhodesien ins Exil geschickt zu werden – sie fanden die Atlantikcharta nicht sonderlich komisch. Auch ich fand sie nicht komisch und reagierte dementsprechend grimmig:
Was ist von denen schon zu erwarten?
Sonny Jameson machte geistreiche Witze. Frank, dem es leichtfiel, Autorität zu bewundern, verteidigte sie. Politische Korruption kann mich heute im Allgemeinen nicht mehr erschüttern, aber die Atlantikcharta verfehlt auch heute nie ihre Wirkung bei mir.
Falls Sie sich fragen, woher die Verachtung für diese Verkünder irdischer Paradiese rührt, »wo Sie doch ein paar Jahre später, als Kommunistin, genau dieselben Verheißungen gemacht haben« – dann lautet die Antwort, dass wir – die Roten – damals an unsere Visionen glaubten. Churchill und Roosevelt können nicht an die Atlantikcharta geglaubt haben. Sie waren zynisch, wir waren dumm.
Mein zweites
accouchement
war anders als erwartet. Ich sage das, weil immer wieder behauptet wird, dass es die geistige Einstellung sei, die den Verlauf der Wehen bestimme. An mein erstes Wochenbett (um die alte Bezeichnung zu wählen, aus der noch die Vorstellung spricht, dass man möglicherweise wochenlang ans Bett gefesselt ist) war ich – in der überheblichen Gewissheit, jung und gesund zu sein – vollkommen sorglos herangegangen, ohne mit Schmerzen oder Schwierigkeiten zu rechnen. Aber die Schmerzen waren schlimm gewesen, und hinterher hatte das Kind mich ausgelaugt, wahrscheinlich weil mein Sohn genauso vor Gesundheit strotzte wie ich. Deshalb war ich beim zweiten Mal auf eine schmerzhafte Geburt und ein wildes Baby gefasst. Und wieder die Lady-Chancellor-Entbindungsklinik, die dumme, herrschsüchtige Leiterin, die munteren Schwestern, die dafür sorgten, dass Mütter und Kinder möglichst wenig Kontakt miteinander hatten. Ich lag im Zimmer gegenüber dem Eingang, das genaue Gegenstück
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