Unter der Haut (German Edition)
allein lassen. In ihrer Gegenwart war er nicht derselbe. Unterdessen war Jean pflegeleicht und liebenswert, schlief immer, wenn sie schlafen sollte, genau wie der kleine Junge, den ich – vor gar nicht langer Zeit – in einem Haus gar nicht weit entfernt gehütet hatte.
Mir ging es nicht gut. Wahrscheinlich hatte ich einen Mangel an roten Blutkörperchen. Der Arzt meinte, dass sich fast alle Frauen mit einem Neugeborenen und einem Schoßkind – ein interessantes Wort für John – müde fühlten. Unser engagiertes Gesellschaftsleben dauerte derweil ungebrochen an. Ich bin nie auf den Gedanken gekommen, nichts zu trinken oder das Rauchen aufzugeben. Ich hatte ein Recht darauf. Außerdem war ich doch nie betrunken, oder? Höchstens dann und wann ein biss- chen beschwipst. Wenn Frank zum Mittagessen aus dem Büro kam und sofort die Bier-, Gin- und Tonicflaschen herausholte und ich nichts wollte, rief er: »Aber wir leben doch nur einmal.« Ich hätte mich nicht gesünder ernähren können, aber ansonsten verhielt ich mich in keiner Hinsicht vernünftig. Ich wollte nur schlafen. Ich wurde mehrmals ohnmächtig, und das ist mir weder vorher noch nachher je wieder passiert. Ich fühlte mich niedergeschlagen und verwirrt, zwischen den beiden Kleinen hin- und hergerissen.
Wir beschlossen, dass ich mit John einen Monat ans Kap fahren und Jean so lange zu einer Freundin geben sollte. Ich hatte weder damals noch heute ein schlechtes Gewissen deswegen. Babys müssen geschaukelt, geknuddelt, getröstet werden, aber nicht unbedingt von der eigenen Mutter. Jede liebevolle Frau kann das übernehmen. Im Haus nebenan lebte eine Frau, die sich zeitlebens eine Tochter gewünscht hatte. Sie war über vierzig und wollte kein eigenes Kind mehr bekommen. Immer wieder zog es sie zu unserem Haus, wo das entzückende kleine Mädchen vor sich hin plapperte, lächelte und mit den süßen Beinchen strampelte. Mit Begeisterung willigte sie ein, sich einen Monat lang um das Baby zu kümmern. Als wir uns endlich dazu entschieden, weinte sie vor Glück. Sie bedankte sich immer wieder und sagte, ich sei verrückt, dieses wonnige kleine Mädchen auch nur eine Stunde aus den Händen zu geben, aber sie wolle sich ja nicht beschweren. Heute wäre ich ihrer Ansicht.
Die Reise wurde verschoben, weil das Schiff meines Bruders, die
Repulse
, im Pazifik von den Japanern mit einem Torpedo beschossen wurde und unterging (genau wie die
Prince of Wales
). Zuerst kam die Nachricht von der Versenkung. Ich dachte, er wäre tot. Warum? Weil ich tief im Innern ständig mit Kriegstoten rechnete. Ich klammerte mich an Frank und sagte, wir müssten schnell noch ein Kind bekommen. Kann man sich eine elementarere, um nicht zu sagen primitivere Reaktion vorstellen? Ich versuchte den Todesnachrichten, den Tausenden von Toten, von denen täglich in den Nachrichten berichtet wurde, etwas entgegenzusetzen. Frank fand mich hysterisch; er hatte recht. Auf jeden Fall war ich weit entfernt von meiner üblichen Munterkeit und Tüchtigkeit. Was ist in dich gefahren?, fragte er ständig. Je eher ich mir eine Pause gönnte, desto besser, sagte er. Ich weinte und war wütend, weil ich nicht sagen konnte, wie gnadenlos ich meiner Mutter die Schuld zuschob, und zwar auf einer völlig irrationalen Ebene, weit jenseits einer Logik, die folgendermaßen hätte aussehen können: »Du hast gearbeitet und gekämpft, Kummer erfahren und Beziehungen spielen lassen, damit dein Sohn zur Marine kommt, nur weil du als junges Mädchen so entsetzlich darunter gelitten hast, als dein Bruder die Prüfungen für die Marine nicht bestanden hat, die dir so leicht gefallen wären – dein Sohn ist dein vergrabenes, verhindertes Ich, deshalb musste er zur Marine. Im Krieg werden Schiffe versenkt.
Was hast du erwartet?
« Aber darum ging es mir gar nicht. Ich stand Auge in Auge mit meinem Feind, einer tief sitzenden und schrecklichen Angst, die vielleicht wie folgt auszudrücken wäre: Wenn eine Frau jahrelang gegen so große Hindernisse angearbeitet hat, um sich ihren Herzenswunsch zu erfüllen, in diesem Fall, ihren Sohn zur Marine zu schicken, und zu guter Letzt erfolgreich ist, dann muss sein Schiff sinken. Was sonst? Wäre Harry wie alle anderen Rhodesier nach Nordafrika gegangen, wäre er Nemesis durch die Maschen geschlüpft.
Etwa um diese Zeit hatte ich zum ersten Mal einen Traum, der mich von da an noch jahrelang verfolgen sollte. Ich befand mich in einer staubigen Erosionslandschaft. Ich
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