Unter der Haut (German Edition)
stand an einem Abgrund oder am Rand einer Schlucht, wo die Umwälzungen der Zeiten in horizontalen Gesteinsschichten abgelagert waren. Dieser Anblick ist uns heute von der Leinwand vertraut, aber damals kannte ich ihn von den Gräbern der Goldsucher, in denen die Erdschichten offen zutage liegen. Ganz unten in der Schlucht entdeckte ich die Form einer großen Echse – nein, halt, es war ein uralter Drache, der sich durch die Jahrtausende dort gehalten hatte. Aber er war nicht tot, denn seine staubüberzogenen Augen, die zunächst ins Nichts starrten, blickten plötzlich wie die eines Chamäleons himmelwärts und sahen mich an. Oder in einer anderen Fassung des Traumes blickten die Augen starr geradeaus und zwinkerten nach vielen Jahrhunderten nur ein einziges Mal.
Es waren nicht die goldenen Augen eines Vogels, nicht die Augen eines Räubers, der schnell herabstößt, sein Opfer tötet und wieder auf und davon ist. Unlängst habe ich einen japanisch-chinesischen Dokumentarfilm über den Teil der chinesischen Wüste gesehen, der an die alte Seidenstraße grenzt. Dort decken die Wanderdünen alte Städte zu und wieder auf, je nachdem, wie der Wind bläst. Sie legen die zarte Mumie einer jungen Frau frei, die in ihren eng anliegenden, windzerfetzten Seidenlumpen immer noch schön ist, und begraben sie erneut. Das ist es, was das Auge der alten Echse sieht, wenn es einmal zwinkert.
Dann kam die Nachricht, dass mein Bruder zusammen mit einigen anderen Männern aus dem Meer gefischt worden war, obwohl die meisten Besatzungsmitglieder ertrunken waren. Später erzählte mir Harry, dass er unter Deck an der Leiter gestanden und zugeschaut habe, wie die Männer an ihm vorbei ins Freie kletterten, und plötzlich habe einer gesagt: »Gehst du nicht nach oben, Tayler?« Ich finde es interessant, dass er nichts davon erwähnte, als er den Eltern einen Bericht über den Schiffsuntergang schickte. Ich habe es nicht vergessen. Das Leben kann davon abhängen, ob jemand zufällig sagt: »Gehst du nicht nach oben, Tayler?« – auf diese Weise erreichte er das Deck genau zu dem Zeitpunkt, als das Schiff kenterte, konnte ins Meer schreiten und davonschwimmen.
Die Zugreise von Salisbury nach Kapstadt dauerte fünf Tage. Ich glaube, es geht auch heute nicht viel schneller. Ich war mit John in einem Abteil. Mit einem hyperaktiven Kind auf einer Fläche eingesperrt zu sein, die nicht größer ist als eine Pferdebox, ist etwas, das ich wahrlich nicht empfehlen kann. Der Zug kroch mitten durch den Kontinent, südwärts, durch die Karru-Steppe und das Gebirge am Kap, während ich sang, Kinderverse vortrug, alle Gedichte aufsagte, die ich kannte, und mir Geschichten ausdachte. Unterdessen schaukelte John, hängte sich an, kletterte umher wie ein kleiner Affe. Es war sehr heiß. Das Fenster musste geschlossen bleiben, damit er sich nicht aus Versehen hinausstürzte. Sitze, Wände, unsere Gesichter waren mit einem Staubfilm überzogen. Mein Kleid war durch und durch staubig, Johns kleine Hose und sein Hemd waren braun. Aber er war wieder der Alte, nicht mehr wütend. Er hatte seine Mutter wieder, deshalb war er gut gelaunt, freundlich und auf alles Neue gespannt. Wenn wir an den Bahnhöfen hielten, sahen wir wieder die kleinen schwarzen Kinder, die ihre Holztiere feilboten, die Frauen, die sich mit Mangos, Apfelsinen und Aprikosen ein paar Pennys verdienten. Die Zeit verging, wenn auch langsam. Jede Stunde, die um war, bedeutete einen kleinen Sieg. Nachmittags schloss ich John fest in die Arme, sodass er keine Wahl hatte, als ein bisschen zu schlafen – Schweiß und Staub klebten unsere Körper regelrecht zusammen. Abends schlief er erschöpft ein und ich mit ihm. Die fünf Tage gingen vorbei, gingen tatsächlich vorbei, und schließlich landete ich in Seapoint in einem kleinen Hotel, dessen vordere Fassade mit bunten Lichtern geschmückt war, ein Signal dafür, dass man dort schöne Ferien machen und sich amüsieren konnte. Kapstadt war voll von Matrosen und Truppen, die zu irgendeinem Kriegsschauplatz unterwegs waren. Und von Flüchtlingen.
Im Hotel wohnte eine nur zu Kriegszeiten denkbare Mischung von Menschen. Einige waren aus Singapur geflüchtet, als die Japaner die Stadt erobert hatten. An meinem Tisch saß eine Frau, die man bei der Einnahme von Singapur mit neugeborenen Zwillingen in ein Ruderboot gesetzt und die auf diese Weise ein Schiff erreicht hatte, das Hunderte von Menschen nach Kapstadt brachte, obwohl man jeden Moment
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