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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Arm und brachte ihn zu mir zurück. Er musste mich stützen und den kleinen Jungen tragen, denn mir war schlecht vor Angst. Er war ein Marinesoldat und hatte einen Tag Landurlaub. Er überreichte mir das Kind mit den Worten: »Puh, das war knapp.« Sein Lächeln sagte mir, dass hier das ersehnte romantische Abenteuer wartete, aber ein Zweijähriger lässt keine rechte Romantik aufkommen.
    Das wirklich bewegende Ereignis dieser Reise an die Küste war eine Begegnung, die mich genauso aufrüttelte wie damals die Worte des alten Mannes in Umtali. Eines Mittags saß bei uns am Tisch eine Cousine der Zwillingsmutter – die im Übrigen unverblümt ihren Unmut über das Essen zeigte, indem sie endlos auf dem Lammcurry mit Kürbis herumkaute, einem fast täglichen Bestandteil unseres Menüs. Sie war eine knochige, blasse Person von über dreißig, in einem cremefarbenen Leinenkostüm und mit einer Perlenkette, deren Schimmer in aller Bescheidenheit deutlich machte, dass sie echt war. Sie tupfte sich ständig die blassrosa Lippen gründlich ab, schaute dabei mit gerunzelter Stirn auf den Brei auf ihrem Teller und bot mir eine Stelle in ihrem Büro an. Wegen des Krieges saß sie in Südafrika fest, ihr Mann war, so glaubte sie, mit der Armee auf dem Weg nach Osten, vermutlich Indien, aber das wollte sie nicht näher erörtern, denn zu viel Reden konnte Leben kosten. Während ihres Aufenthaltes hier setzte sie sich für gute Beziehungen zwischen den Rassen ein: Sie gehörte einer christlichen Kirche an, die sich dieser Aufgabe verschrieben hatte. Als sie hörte, dass ich aus Südrhodesien kam, holte sie zu einer vernichtenden Rede aus. Ich hätte jetzt gerne einen tiefsinnigen Spruch zitiert wie: »Sehen Sie, Sie sind sehr jung, und ich bin sehr alt«, aber ihre Worte waren wesentlich deutlicher: »Was
ist
über ein Volk zu sagen, das den Schwarzen das ganze Land gestohlen hat und dann davon redet, sie zivilisieren und bilden zu wollen? Was sagt man über ein Land, in dem hunderttausend Weiße eine Million Schwarze als Dienstboten und billige Arbeitskräfte beschäftigen, ihnen jede Ausbildung verweigern, und das alles im Namen des Christentums?« Aber wirklich unerträglich sei für sie die Selbstzufriedenheit der Rhodesier. »Warum um alles in der Welt sind sie so eingebildet?«
    So sprach sie, während ich versuchte, John so lange auf seinem Stuhl festzuhalten, bis ich ihm ein paar Happen hineingestopft hatte, während die Cousine den Zwillingen abwechselnd Babybrei in den Mund löffelte, eins, zwei, eins, zwei, und bemerkte: »Klingt ein bisschen wie Singapur. Hochmut kommt vor dem Fall.«
    Diese Ansichten über mein Vaterland können mich doch mit Sicherheit nicht überrascht haben? Sie waren weniger eine Überraschung als vielmehr eine lange vorenthaltene, erregende Wahrheit. Ich kannte niemanden, der imstande gewesen wäre, es dermaßen klar und einfach auszudrücken. Das war wahrhaftig eine Offenbarung, und mehr noch, ich litt unter der Verachtung der Engländerin. Meine Eltern hatten zwar seit Jahren von »diesem zweitklassigen kleinen Land« geredet, aber das traf mich längst nicht so tief wie die Worte dieser Frau oder auch die eines Mannes, eines südafrikanischen Regierungsmitglieds, den der Krieg aus irgendeinem Grund in unser schäbiges Hotel-Wohnheim verschlagen hatte und der verkündete: »Ach, Sie sind also aus unserem
cleveren
kleinen Nachbarland im Norden?« (Die Nationalisten kamen erst 1949 an die Macht, das »Gefühl« in Südafrika war noch britisch geprägt, und man hatte Südrhodesien nicht verziehen, dass es 1924 die Selbstverwaltung gewählt hatte, anstatt eine Provinz von Südafrika zu werden.)
    Mein Bruder hatte ein paar Tage Aufenthalt in Kapstadt, bevor er weiterfahren musste zu seinem neuen Schiff, der
Aurora
, die bis zum Ende des Krieges im Mittelmeer stationiert sein würde. Er saß auf der Veranda des Hotels und bewunderte John und mich, während ich meinerseits den gut aussehenden Marineoffizier bewunderte. Wir hatten uns etliche Jahre kaum gesehen und wuss- ten nichts voneinander. Über den Untergang der
Repulse
wollte er nicht reden, und es dauerte noch Jahre, bis ich erfuhr, was für eine Bedeutung dieses Unglück für ihn hatte. Wir saßen uns gegenüber und flirteten ein bisschen miteinander wie manch anderes Geschwisterpaar, das sich selten sieht. Außerdem taten wir es auch ein wenig für die jungen Frauen im Hotel, die ihre Kinder viel häufiger als sonst an uns vorbeischoben,

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