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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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entlang, eine junge Frau, die regelrecht bebte vor physischer Energie und dem Selbstvertrauen, das man ausstrahlt, wenn man sich kompetent fühlt, mit dunklen Augen, dunklen Haaren und einem roten Mund – leuchtender Lippenstift war wieder in Mode gekommen. Sie hatte einen Stapel Flugblätter in der Hand und verteilte sie, als sie zu den jungen Leuten kam, zu denen sie gehörte. Sie strahlte die Kampfbereitschaft aller Debattierenden aus. Sie würde beim kleinsten Wort ihrem Gegner gegenübertreten, die Augen fest auf einen unsichtbaren Spickzettel gerichtet, und ihm kraft ihrer reinen Überzeugung unwiderlegbare Fakten und Zahlen entgegenschmettern. Sie war die Aufrichtigkeit in Person. So stand sie da. So hatte ich dagestanden. Sie war Mitglied einer faschistischen Gruppe, und sie war zum Stören und Dazwischenschreien gekommen. Nein, nein, ich will nicht behaupten, dass Kommunisten auf einer Stufe stehen mit Faschisten, Gott bewahre. Wir glaubten an die uneingeschränkte Fähigkeit der Menschheit, sich zu vervollkommnen, an den unausweichlichen Triumph von Menschenfreundlichkeit und Liebe – unser Mythos war nicht anders als der religiöse, wie könnten wir da auf einer Stufe stehen mit Rassisten, Zynikern und Unterdrückern? Wenn die großen Buchhalter im Himmel feststellen: »Ja,
in der Tat
gehen sehr viel mehr Gräueltaten, Morde und Zerstörungen auf die Rechnung der Kommunisten als auf die der Nazis und Faschisten«, werden sie dann auch das Gewicht mit der Gravur »In guter Absicht« in unsere Waagschale legen? Eine interessante kleine Streitfrage …
    Unsere Herzen quollen immerzu über vor Mitgefühl für die Welt. Jede freie Minute, die es zwischen den verschiedenen Treffen oder dem Zeitungsverkauf oder dem »Bearbeiten« einer »Kontaktperson« gab, konnte man uns in einem billigen Café finden, wo wir uns über eine wunderschöne Zukunft unterhielten. Unsere Träume nährten sich aus der kalten Wut, die wir alle wegen des schrecklichen Krieges empfanden, der unserer Überzeugung nach hätte vermieden werden können. Und in jedem Fall »verteidigten wir das Schlimme gegen das noch Schlimmere«. Schon sehr bald würde es keinen Krieg mehr geben – wie unsere Eltern, wie mein Vater glaubten wir, dass dieser Krieg der letzte sein würde, weil man doch – endlich – erkannt haben musste, wie zerstörerisch der Krieg ist. Wenn wir ein zerlumptes schwarzes Kind beobachteten, das auf dem Bürgersteig vorbeitrödelte und durch das Fenster auf die verblüffenden Reichtümer unseres Restaurants starrte, versicherten wir uns gegenseitig, dass es solche Kinder schon sehr bald nicht mehr geben werde. Wir lebten von heroischen Mythen und Fantasievorstellungen. Der Sturm auf die Bastille – erst vor Kurzem wurde entdeckt, dass sich nur sieben Menschen darin befunden hatten und dass diese dort ganz annehmbar behandelt worden waren. Wir stellten uns vor, wie wir schier unüberwindliche Mauern bezwangen, um hungernde Gefangene zu befreien. Die Erstürmung des Winterpalastes – wir identifizierten uns mit heldenmütigen Revolutionären und nicht mit dem Mob, der sich in den Weinkellern hemmungslos betrank. Aus dem von den Nazis eroberten Europa drangen Geschichten über heroischen Widerstand zu uns, über mutige Worte unter dem Galgen, Fluchten in die Schweizer Freiheit und die Heldentaten der französischen Résistance. Jugoslawien war ein überzeugendes Symbol: Wir wuss- ten, dass Tito, der von der britischen Regierung vor den Kopf gestoßen, von Churchill allerdings anerkannt worden war, einen heroischen Krieg führte, der genauso lauter und erhaben war wie die Schlacht um England. Von den Mythen, die uns am Leben erhielten, behielt nur der Lange Marsch seinen Glanz.
    Gleich zu Beginn unserer Aktionen setzte etwas ein, das auf unserem Programm nur unter ferner liefen angesiedelt war und beinahe unmerklich zu einem Teil der Arbeit wurde. Wenn ich den
Guardian
einmal die Woche im Farbigenviertel verkaufte, tauchte ich einen Nachmittag lang in bitterste Armut ein, denn auf den Straßen und Gassen wimmelte es nur so von teilnahmslosen, betrunkenen und demoralisierten Menschen. Sie rissen mir die Zeitungen aus der Hand, als handelte es sich um Fahrkarten ins Gelobte Land – nach Amerika. Ein kranker Mann mit dick vereiterten Augen saß in der Sonne. Er grapschte nach meinem Rock. »Missus, Missus, setzen Sie sich her und beten Sie mit mir, setzen Sie sich her und beten Sie.« Doch von Gebeten hielt ich gar

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