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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Westen hat das Christentum zweitausend Jahre lang unser Denken geprägt. Die bedauernswerte Menschheit lebt in einem Jammertal (im Kapitalismus), wird aber durch einen Erlöser (Christus, Lenin, Stalin, Mao et cetera) errettet, und nach einer Zeit des Schmerzes und der Verwirrung (Fegefeuer) wird das Himmelreich kommen, in dem es keine Konflikte mehr gibt. (Der Staat wird sich überleben, und es wird Gerechtigkeit herrschen.)
    Einer der wichtigsten Glaubensartikel war der, dass große Männer (oder Frauen) den Gang der Geschichte nicht beeinflussen. Ich habe vergessen, zu welcher Abqualifizierung dieser spezielle »Irrtum« führte. Linkes Abweichlertum? Kleinbürgerliche Verzerrung? Nur um sicherzugehen, dass dieser Punkt gewürdigt wird: Das alles war zur Zeit von Stalin und Hitler und Mussolini. Und von Churchill, nicht zu vergessen.
    Wir glaubten, dass es nie wieder nationalistische oder religiös motivierte Kriege geben würde, dass Nationalismus eindeutig der Vergangenheit angehörte. Genauso die Religion. Wir haben uns damals oft gegenseitig beglückwünscht: Wenigstens kann es für uns nie wieder einen Religionskrieg geben. Oder einen nationalistischen Krieg.
    Uns wurde erklärt – der Linie gemäß –, dass ein persönliches Interesse an den Gefühlen oder Motiven von Menschen »freudianisch« und reaktionär sei.
    Nur »proletarische« Literatur sei »korrekt«.
    Wir setzten als gegeben voraus, dass die Arbeiterklasse – oder die Schwarzen oder beliebige andere Unterdrückte –, wenn sie die Macht übernähme, nur von reinen und selbstlosen Gedanken geleitet sein würde. Von den vielen Absurditäten, an die wir glaubten, war diese wahrscheinlich die schlimmste. Wenn jemand es wagte, etwas von der »menschlichen Natur« zu murmeln, redeten wir geduldig auf ihn ein und erklärten ihm, dass er nicht begriffen habe, welche Regenerations- und Transformationskräfte dem Kommunismus innewohnten.
    Die machtvollste Vorstellung, die Idee, die alle anderen untermauerte, die wir als erwiesen betrachteten und nicht einmal diskutierten, war die, dass der Kapitalismus dem Untergang geweiht war, dass er von der Geschichte höchstselbst abgewählt worden sei. Diesen entsetzlichen Krieg hatte der Kapitalismus hervorgebracht: Der Kapitalismus säte Krieg, der Sozialismus war schon seinem Wesen nach friedlich. Der Kapitalismus hatte den letzten Krieg und die großen Wirtschaftskrisen in Großbritannien, in Europa und in Amerika hervorgebracht – die Mehrzahl der Menschen, die zum Left Club stießen, war von der Wirtschaftskrise geprägt. Wenn es bei uns einen Vortrag zur Wirtschaftskrise gab, sprachen die Referenten und die meisten Menschen aus dem Publikum aus eigener Erfahrung mit Arbeitslosigkeit und schweren Zeiten, und es kam zu leidenschaftlichen Diskussionen, die bis lange nach Mitternacht dauerten. Immer wieder meldeten sich
Zeitzeugen
zu Wort: »Ich bezeuge, dass es genau so war.« Zu den Büchern, die wir alle gelesen hatten, gehörten
Die Früchte des Zorns, Love on the Dole, So grün war mein Tal
, Theaterstücke wie Clifford Odets’
Warten auf Lefty
und die Stücke von Lillian Hellman. Wir sangen:
    I built a railroad, now it’s done
    Buddy, will you spare a dime.
    Die materiellen Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Großbritannien waren für jeden erkennbar, der das Eintreffen der Royal Air Force in der Kolonie beobachtet hatte: Die Offiziere waren gut dreißig Zentimeter größer als die Unteroffiziere und die Mannschaften, die das Produkt einer Kost waren, die größtenteils aus Brot, Margarine, Marmelade und starkem Tee bestand. Der Kapitalismus war der Tod, und das war alles, was man über ihn sagen konnte.
    Wir wussten genau, dass alle, die mit der Wirtschaft zu tun hatten, egal in welchem Zweig, auf einer moralisch niedrigen Stufe standen. Jemanden als »Geschäftsmann« zu bezeichnen bedeutete, Verachtung auszudrücken. Dass die Mitglieder der Familie Wilcox in E. M. Forsters
Howards End
als grobe und philisterhafte Barbaren geschildert werden, sagt alles. Genauso wie das Bild, das ich in
Das goldene Notizbuch
von Richard entwerfe. Ich glaube, dass diese Haltung verstärkt wurde durch die Verachtung, die der englische Adel für den »Handel« empfand und an gesellschaftliche Gruppen weitergegeben hatte, die mit der Ursprünglichkeit dieser Verachtung nichts zu tun hatten. Trotzdem waren »die Wirtschaft«, der Handel, kurz gesagt der Kapitalismus, nach unserem Verständnis zu bestimmten

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