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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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nichts. »Ich glaube nicht, dass Ihnen damit geholfen ist«, sagte ich freundlich, kumpelhaft. »Aber ich werde meiner Freundin Mary Bescheid sagen, die ist nämlich im Kirchenausschuss – die kommt dann vorbei und kümmert sich um Sie.« »Wann kommt sie?« »Bald.« »Sagen Sie ihr, sie soll sich beeilen, ich bin krank.«
    In einer Kleinstadt kennen sich alle Mitglieder der sogenannten Wohlfahrtsorganisationen. Mag sein, dass wir Rote und Revolutionäre waren und dass die Geschichten, die brave Bürger über uns erzählten, ihnen eine Gänsehaut machten, aber einige von uns gehörten gleichzeitig – natürlich nur inoffiziell – zur Gruppe der Sozialarbeiter. Jedes Mal wenn ich diese armen und traurigen Straßen wieder verließ, brachte ich mehrere Stunden damit zu, die Fürsorge, verschiedene Kirchen, das Schulamt, das Wohnungsamt und das Gesundheitsamt anzurufen. »Es gibt da eine Frau mit drei Kindern, die von ihrem Mann verlassen worden ist, glauben Sie, Sie könnten vielleicht …« »Ja, das kann ich machen. Wie ist die Hausnummer? Danke vielmals.« »Es gibt da am Selous Court 43 ein farbiges Kind, das nicht zur Schule geht.« »He, sind Sie das, Tigger? Ich kümmere mich um die Sache.«
    Wenn wir den
Guardian
im Farbigenviertel verkauften, verlangten wir kein Geld dafür und wurden deswegen in der Gruppe kritisiert.
    »Seit wann stehen wir für Mildtätigkeit, Genossen?«
    »Mein Gott noch mal, zeig doch ein bisschen Herz, Genosse, manchmal kotzt du mich an.«
    Dieser Genosse war in den meisten Fällen Gottfried. Er war immer die Verkörperung kalter, schneidender, marxistischer Logik, und sein Lieblingsspruch lautete: »Und jetzt wollen wir die Situation mal analysieren.« Für seine Analysen sprach, dass sie stets die Grundstruktur einer Situation offenlegten. Selbst heute noch stelle ich bei Gelegenheiten, bei denen ich mit Informationen oder Redeschwallen überschüttet werde, fest, dass ich den Geist dieser Stimme herbeirufe und mir denke: Gut, also dann wollen wir die Situation mal analysieren. Ein anderer Mann, einer, der nicht zu den Gründern gehörte, erntete in zunehmendem Maß gereiztes Missfallen. Er war gerade erst aus England eingetroffen und Mitarbeiter der Verwaltung in einem der Royal-Air-Force-Camps. Er war ein großer, schlanker, gut aussehender junger Mann, und alle Frauen waren für kurze Zeit in ihn verknallt. Er war der personifizierte junge Held der Arbeiterklasse. In Wirklichkeit tat er nur so; er stammte aus der Mittelschicht. So wie Gottfried analysierte er ständig die Situation, und er wurde tatsächlich für einige Zeit unser Funktionär für politische Bildung. Er erwies sich als Fanatiker, als Lenin-Anhänger, war ernst, lächelte nie, saß immer ein wenig abseits, machte sich Notizen und schlug bei Autoritäten nach, bei Lenin, bei Stalin. Er saß da und hörte kritisch zu, während Gottfried etwas analysierte, und dann gab er sein Urteil ab, das nicht notwendigerweise zu Gottfrieds Gunsten ausfiel. Es gab ein Treffen zur Situation in Südafrika – das heißt ein internes oder geheimes Treffen. Es ist wohl erwähnenswert, dass wir die politische Situation in Südafrika, die Behandlung der Afrikaner, der Farbigen und der Inder damals, Anfang der vierziger Jahre, als dermaßen grausam bewerteten, dass unserer Meinung nach eine revolutionäre Situation vorlag, die innerhalb kürzester Zeit überkochen und zu einem Blutbad führen musste. Wir brachten ganze Abende mit Diskussionen darüber zu, wie wir diesen Prozess unterstützen könnten, »wenn der Moment gekommen sei«. Die Vereinigung der Minenbesitzer hatte allen Belegschaften einen Vorschlag unterbreitet. Unser Genosse, er hieß John Miller, saß lange genug schweigend da, um unsere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und sagte dann: »In Situationen wie dieser, Genossen, genügt es, wenn wir uns fragen: Welches Interesse hat die Vereinigung der Minenbesitzer? Was sind ihre Prioritäten? Sobald wir das herausgefunden haben …« Eine Pause zur Spannungssteigerung. Er lächelte kühl und sagte dann: »Dann ergibt sich zweifelsfrei, dass wir mit unserer Strategie genau das Gegenteil verfolgen müssen.« Beifallsstürme. Ja, auf diesem Niveau lag unser politisches Denken tatsächlich.
    Die Beifallsstürme waren damals aber schon längst nicht mehr so laut. Dieser junge Held war nämlich zu uns gestoßen, als die Gruppe sich bereits auflöste oder zumindest veränderte. Heute ist mir eines klar: Wären wir wirklich

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