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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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eine kommunistische Gruppe gewesen, noch dazu vielleicht in einem kommunistischen Land, dann hätte dieser Mann Gottfried ernsthaft herausgefordert. Er wäre (ob nun aus Gründen der Organisation oder der Persönlichkeit) diese immer wiederkehrende Figur des ewig Zweiten gewesen, der die Spaltung der Gruppe betreibt. Genau wie Frank Cooper hätte er die Hälfte der »Kader« mit sich gezogen, eine rivalisierende Gruppe gegründet und die Zurückbleibenden verleumdet. Ken Graham beteiligte sich an diesen Machtkämpfen überhaupt nicht.
    Seine Stimme war die der Mäßigung, er war derjenige, der Feindseligkeiten auffing, Streit schlichtete, die Gruppe stabilisierte und dabei oft seinen Humor ins Spiel brachte. Seiner Persönlichkeit nach war er im Grunde jemand für die Labour Party, und als er wieder in England war, trat er dieser auch wirklich bei.
    Etliche Jahrzehnte später lernte ich einen Mann kennen, der über reiche Erfahrung mit dem Parlament verfügte und meinte, dass die meisten Revolutionäre »gezähmt« werden könnten, indem man ihnen eine Stelle anböte. Fast alle seien Menschen, deren Fähigkeiten brachlägen oder nur teilweise genutzt würden. Sie sähen nicht, dass sie in Wirklichkeit unter Frustrationen litten. Die angebotene Stelle müsse natürlich sorgfältig und ohne jeden Zynismus ausgewählt werden und den Fähigkeiten des geborenen Kritikers Raum für nützliche Reformen bieten. Wäre mir dieser Gedanke damals nahegebracht worden, hätte ich ihn mit einer Reihe von Schimpfwörtern von mir gewiesen, aber heute frage ich mich, ob er nicht doch zutrifft.
    Wenn es etwas gibt, worüber ich mich im Rückblick nur schwer distanziert und neutral äußern kann, dann ist es das Ausmaß an Verachtung und Abneigung, mit dem wir jeden bedachten, der nicht zu uns gehörte. »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.« Wieder die Religion: Solches Verhalten wurzelt in der Ge- wissheit jeder Religion, die ausschließliche Wahrheit zu vertreten. Kommunistische, linke und revolutionäre Gruppen im Allgemeinen legitimieren den Neid. An nichts lässt sich das besser aufzeigen als an ihrer Haltung gegenüber der Kunst und der Literatur.
    In Ländern mit einer kommunistischen Partei gibt es einen Rahmen – oder vielmehr eine Schablone – für den Drang, etablierte Künstler kleinzumachen, zu zerstören oder zu verunglimpfen. Wenn Thomas Mann – oder Proust – ein Speichellecker der herrschenden Klasse ist, dann erledigt ihn das endgültig – und das Feld ist frei für die Talente des Kritikers, der oft genug selbst gerne Schriftsteller wäre. Die Schriftsteller (oder Maler), die aus dem Weg geräumt werden, sind immer diejenigen, die noch präsent sind, die der Generation direkt vor der des Kritikers angehören. Die Klassiker sind geschützt – sie werden vielleicht sogar verehrt, denn sie sind tot. Dieser Prozess ist zu unseren Lebzeiten in unzähligen Ländern abgelaufen. Wenn es keine kommunistische Partei gibt, keinen intellektuell akzeptablen Vorwand, mit dem man Neid und den Drang, Vorgänger in Stücke zu reißen und zu verbrennen, rechtfertigen kann, dann nimmt die Verunglimpfung vielleicht nationalistische Formen an. Er – oder sie – ist ein Nestbeschmutzer und hat seinem Heimatland den Rücken gekehrt, weil er im Ausland lebt, oder (aus feministischer Sicht) er ist ein Mann, oder (aus männlicher Sicht) ihre Bücher sind nur für Frauen interessant. Es kann aber auch sein, dass dieser Prozess zu einer Zeit stattfindet, in der es keinen organisierten oder institutionalisierten Vorwand gibt, mit dem man Neid rechtfertigen kann, und dann ist das Phänomen vielleicht als das zu erkennen, was es in Wahrheit ist. In Zeitungen oder Zeitschriften stößt man hin und wieder auf eine Besprechung oder eine Kritik von einem Anfänger, die nur so funkelt und strahlt und voll Hass auf die Vorgängergeneration des Autors steckt. Man merkt sofort, dass dieser Mensch gerade erst von der Universität abgegangen ist, durch einen Onkel, eine Tante, einen Liebhaber oder Freund eine Stelle bekommen hat und sich im Machtrausch befindet: An der Universität hatte er – oder sie – jahrelang gehört, dass man bestimmte Schriftsteller zu verehren habe, jetzt können sie in Grund und Boden gestampft und vernichtet werden. Wahrscheinlich wird sich dieser kleine Kritiker später dafür schämen, oder es wird ihm peinlich sein. Das Entscheidende ist, dass es allezeit und in jeder Kultur, die über hochgelobte

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