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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Zeiten notwendig und gut. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir einmal den Versuch unternommen hätten, diese »Widersprüche« miteinander in Einklang zu bringen oder sie auch nur zu benennen. An den Überzeugungen, die für einen selbstverständlich sind, hält man am längsten fest. Wenn Leute heute sagen: »Aber, wie
konnten
Sie denn nur einverstanden sein mit dem Kommunismus, mit der Sowjetunion, wenn Sie doch über die Situation dort Bescheid wussten?« – dann vergessen sie immer wieder, dass es gedanklich keine Alternative zum Kommunismus oder zum Sozialismus für uns gab. Der Kapitalismus war tot, und es war alles nur noch eine Frage der Zeit. Die Zukunft war sozialistisch, war kommunistisch. Alle »Irrtümer«, die die Sowjetunion – das große Vorbild – begangen hatte, würden korrigiert werden, sie waren nur Hindernisse auf dem Weg zum Sozialismus.
    Dieses »Aber Sie haben doch Bescheid gewusst« führt auf unsicheres und undurchsichtiges Terrain. Damals in Rhodesien verachteten wir die Presse total. Ihre Haltung zur Schlüsselfrage, nämlich zur Behandlung der schwarzen Bevölkerung, war einfach absurd. Eine fünfminütige Lektüre des
Rhodesia Herald
genügte, um den Glauben an unsere Ideen wiederherzustellen. Wenn wir die Phrase von den »Lügen der kapitalistischen Presse« benutzten, dann hatten wir guten Grund dazu. Wenn die Menschen aus Großbritannien von der »kapitalistischen Presse« sprachen, dann meinten sie damit Zeitungen, die den Verrat an der rechtmäßigen Regierung Spaniens unterstützt hatten, die träge auf Hitlers Machtergreifung reagiert und Lügen über seine Judenpolitik verbreitet hatten.
    Wurde damals über die Säuberungen oder die Kollektivierung gesprochen und über die Millionen Toten, die es dabei gegeben hatte, dann glaubten wir diese Zahlen nicht. Die kapitalistische Presse war bemüht, das aufkommende kommunistische Paradies anzuschwärzen, mehr gab es dazu nicht zu sagen.
    Heute denke ich, dass es um all das gar nicht ging. Ich habe inzwischen sehr viele Menschen kennengelernt, die den gleichen Prozess durchgemacht haben, zuerst überzeugte Kommunisten waren, dann mehr oder minder große Zweifel hegten – von Arthur Koestler beschrieben als »Münzen, die einem nacheinander aus der Tasche fallen« (interessant, wie hier Münzen mit Ideen gleichgesetzt werden) –, dann Trauer oder Niedergeschlagenheit empfanden und schließlich den Glauben verloren. Dieser Prozess kann lange dauern. Aber warum dauert er oft so lange? Das ist doch die Frage. Es gibt Menschen, die eine plötzliche Kehrtwendung vollziehen und kommunistische Ideen (vielleicht wäre »Gefühle« das richtige Wort) von einem Tag auf den anderen über Bord werfen – aber dazu gehört ein bestimmter Persönlichkeitstyp. Und der ist rar. Die meisten drifteten langsam aus dem Kommunismus, aus »der Partei« hinaus. Bei manchen ging das völlig schmerzlos. Bei mir nicht. Wovor ich am meisten Angst hatte, waren Attribute wie »Überläuferin« oder »Abtrünnige« – eine wahrlich mächtige Waffe. Aber ich hatte mich dem Kommunismus nie mit Haut und Haaren verschrieben. Das weiß ich aus Vergleichen mit manchen anderen, die das sehr wohl getan haben. Tragisch war es für jene wirklich armen Jungen und Mädchen, für die der Kommunismus eine Hoffnung, eine Lebensart, eine Familie, eine Universität war – eine Zukunft. Einige entstammten den armen Familien aus dem Londoner East End und traten schon der Young Communist League bei. Für sie war der Kommunismus alles, und als sie ihren Glauben verloren, waren sie auf einmal den besten Teil ihres Lebens los. Einige gingen daran zugrunde. Einige hatten schwere Nervenzusammenbrüche. Sie waren – ganz im Ernst – nie wieder dieselben.
    Die Frage sollte so gestellt werden:
Wie viel Zeit braucht ein Mensch, der einen Glauben annimmt – sei der nun politisch oder religiös – und seine Individualität in einem inneren Unterwerfungsakt einer Autorität ausliefert, bis er seine emotionale
(ich sage be- wusst nicht intellektuelle)
Autonomie wiedererlangt? Es muss eine psychische Gesetzmäßigkeit geben, die darüber bestimmt und die nichts oder nur wenig mit Vernunft, mit dem geistigen Niveau eines Menschen zu tun hat.
In meinem Fall hat es Jahre gedauert, bis ich alles abgeworfen hatte, und dabei war ich nicht mit ganzer Seele dabei, wie etliche Leute, die ich kannte, und wie es manche immer noch sind. Das ist für mich die wirkliche Frage, aber die

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