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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Sozialdemokraten weiß ich nichts zu erzählen.« Sie war neugierig auf seine Familiengeschichte, die nicht nur ihr, sondern uns allen wie eine Geschichte aus einem Buch vorkam. »Warum soll man da noch Romane lesen?«, bemerkte sie. Wir, die jungen Leute, die sie für ihre Labour Party rekrutiert hatte, waren alle ganz verrückt nach Literatur, nach Dichtkunst – eine Leidenschaft, die weder sie noch Gottfried teilten. »Tut mir leid, Gedichte verstehe ich einfach nicht, da kann man von mir nichts erwarten«, pflegte sie immer zu verkünden, während Gottfried ihr hilfreich zur Seite sprang: »Alles, was es wert ist, gesagt zu werden, lässt sich in einem Absatz zusammenfassen.« »Ich hab da einen blinden Fleck, mehr kann ich dazu nicht sagen«, und sie sah uns mit ihren unschuldigen blauen Augen herausfordernd an, im Blick einen Ausdruck jener Befriedigung, die häufig mit solchen Großtaten des Philistertums einhergeht. Oder die beiden lasen sich gegenseitig ein, zwei Verse vor und taten dabei so, als wären sie von Ehrfurcht oder einfältiger Bewunderung erfüllt. Nur wenige Gedichte können bestehen, wenn man sie emphatisch betont und mit Sarkasmus in der Stimme vorträgt.
    »›In immer weitren Kreisen kreisend …‹ – wie würden Sie das verstehen, Gottfried? ›Hört der Falke den Falkner nicht mehr …‹ Was will Yeats uns nur damit sagen?«
    »›Alles zerfällt …‹«, deklamierte Gottfried. »›Die Mitte kann’s nicht halten …‹ Was fällt da? Und was für eine Mitte? Das ist es, was ich meine. Es ist so unpräzise.«
    Charles Mzingele liebte Gedichte. Wir gaben ihm Bücher von Dichtern, von denen er noch nie etwas gehört hatte, und versorgten ihn mit passenden Auszügen von Shelley und Blake, um ihn und seine Konspiranten damit zu beflügeln. Einmal zitierte er: »›Tyger, Tyger burning bright …‹«
    »Aber Charles«, sagte Mrs. Maasdorp daraufhin streng. »Es gibt doch keine Tiger in Afrika.«
    »Es gibt auch keine Lämmer in Salisbury«, antwortete er dann. »Nur in den östlichen Distrikten, oder? ›Kleines Lamm, wer schuf dich? Weißt du, wer dich schuf nicht?‹« Und dann füllten sich seine Augen mit Tränen.
    Daraufhin betrachteten Gottfried und Mrs. Maasdorp, beide eingefleischte Atheisten, ihn mit jenem politisch diagnostizierenden Blick, der die Frage implizierte: Sollte hier etwa jemand abtrünnig werden?
    »Aber wozu soll das
gut
sein, Charles?« Charles rezitierte lächelnd, aber auch seufzend:
    »›Grausamkeit hat ein Menschenherz
    Und Menschenangesicht der Neid,
    Das Grauen ist die göttlich Menschgestalt
    Und Menschenkleid die Heimlichkeit …‹
    Genauso habe ich es erfahren, Mrs. Maasdorp. Tut mir leid, aber ich muss das sagen, tut mir leid.«
    Mrs. Maasdorp hatte noch einen Verbündeten, Jimmy Lister, einen Schotten aus Umtali, den wichtigsten Mann einer Unterorganisation der Gewerkschaft der Eisenbahner – einen Weißen. Er war aus den Kämpfen am Clyde, wo 1930 die Kräfte des Kapitals bedroht worden waren, als leidenschaftlicher Sozialist hervorgegangen. Er war kein Kommunist. Er hatte das Unmögliche möglich gemacht – entscheidend war auch jetzt die Kraft der Persönlichkeit – und seine Unterorganisation dazu gebracht, für eine Unterorganisation der Afrikaner einzutreten. Als wir ihn fragten, wie er das geschafft habe, weil wir selbst unbedingt wissen muss- ten, wie man so etwas anstellt, meinte er: »Ich hab einfach Klartext geredet mit ihnen, das ist alles. Ich hab ihnen gesagt, wie ich mich für sie als Arbeiter schäme und dass sie gar nicht erst mit mir zu rechnen brauchen, wenn sie grundlegenden sozialistischen Prinzipien den Rücken kehren.« Und um uns zu zeigen, wie er bei den anderen weißen Arbeitern tiefe Scham ausgelöst hatte, rezitierte er Burns:
    »For a’ that, and a’ that,
    It’s coming yet for a’ that,
    That Man to Man the world o’er,
    Should brothers be for a’ that.«
    Er habe keine Zeit für überspannte Dichtkunst, meinte er.
    Eine Szene in dem kleinen Büro von Mrs. Maasdorp, in dem sich etliche Menschen drängen. Drei Angehörige der Royal Air Force, Piloten in der Ausbildung, rezitieren vor Jimmy Lister Byron, Shelley, Keats und Blake, während Charles Mzingele – der am selben Tisch sitzt, und das ist nur in diesen extrem revolutionären Zirkeln möglich – zuhört und seufzt und lachend sagt: »O ja, das gefällt mir, ich glaube, das ist die Wahrheit.« Jimmy Lister, ein kleiner Kämpfer, wartet,

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