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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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wo er den sterbenden Fisch ausnahm und ihn, schon eine Minute nachdem er ihn aus dem Meer geholt hatte, auf den Rost des Grills legen konnte. Wein. Brot, das salzig schmeckte. Weintrauben aus Hanepoort. Getrocknetes, mit einer Zuckerkruste überzogenes Obst. Als wir ins Bett gingen, drehten wir die Flamme der Petroleumlampe klein. Schatten und das Tosen des Meeres erfüllten den Raum. Wir liebten uns und lauschten dem Meer, liebten uns und lauschten, unsere Körper waren glitschig wie Fische, dann schlief er ein, und ich lag wach und lauschte. Die Wellen krachten und donnerten an den Strand, eine jede schien einen Angriff gegen das Land zu reiten und es mit der zurückfließenden Brandung hinauszuzerren, die ganze Nacht, die ganze Nacht … als stünde das kleine Häuschen tief unten auf dem Meeresboden.
    Ich war oft genug versucht, über dieses Paradies der körperlichen Lust zu schreiben und dabei die Wahrheit zu übertünchen, die Wahrheit, dass ich deprimiert war. Es handelte sich um keine »richtige« Depression, aber auch nicht um die reizvolle Melancholie nach dem Motto: »Ach, sieh doch, wie traurig ich bin.« Ich malte mir eine Geschichte aus, in der sich die individuelle Existenz der Liebenden im Tosen des Meeres auflöst, in der der Wind durch die Büsche streicht und eine Lampe ihr Licht über einen schlanken, knochigen, beinahe schon knabenhaften Rücken wirft, eine Geschichte, in der fast wie hingestreut wirkende kleine goldfarbene Sommersprossen auf glänzend weißer Haut direkt ans Herz rühren und mehr Wahrheit preisgeben als das gramzerfurchte Gesicht … das braune, seidige Knie einer Frau, deren junge Hand einsam auf Bettlaken ruht, die nach dem Rauch des Feuers riechen. Ich war
fast
in der Lage, mir einzubilden, dass ich als Schatzkästlein der Lust empfunden wurde – der Narzissmus muss zu seinem Recht kommen, wie man erst wirklich lernt, wenn man alt ist. Musste diese Sache denn einen Haken haben? Schließlich war es mir ja auch egal, dass René mich gönnerhaft behandelte, denn ich würde schon bald wieder auf und davon sein – und genau deswegen war mir richtiggehend übel vor Seelenleid: weil ich überhaupt wieder zurückmusste.
Wenn
die Umstände anders gewesen wären, hätte ich in Kapstadt bleiben können und hätte es, Nachkriegschaos hin oder her, wahrscheinlich innerhalb von ein paar Monaten geschafft, auf ein Schiff zu gelangen, das mich dann nach London oder Paris gebracht hätte. Es war ganz bestimmt nicht so, dass ich danach lechzte, bei diesem Mann zu bleiben – von dem ich zu jenem Zeitpunkt noch nicht einmal wusste, dass seine Heirat unmittelbar bevorstand. Und ich hatte auch nicht das Gefühl, dass es meine Bestimmung war, im Auftrag des
Guardian
Briefe an säumige Abonnenten zu schreiben.
    Fünf lange Tage im Zug. Nicht hinunter an die Küste, ans Meer, zur Freiheit, zur Liebe, sondern wieder zurück und fort von dem, was sicher meine wahre Zukunft hätte sein können; stattdessen durch die Berge, durch die Karru-Steppe, langsam, langsam, mit einem Halt auf jedem kleinen Nebengleis, rumpelnd und quietschend vorbei an den Hütten der Vorarbeiter mit den winkenden Frauen und Kindern, und die Räder donnerten über die Schienen: Ich fahre zurück, ich fahre zurück – und der Staub wehte durch den Zug, und ich lag in einer Schlafkoje und war so unglücklich wie nie zuvor in meinem Leben. Ich sah mich der emotionalen oder psychischen Doppelhelix gegenüber, die aufgerollt an den Wurzeln meines Wesens liegt. Es ging nicht um die Frage: Wie dumm, wieder schwanger zu sein, wo ich es doch gar nicht zu sein bräuchte. Das Problem bestand darin, dass es so sein musste. Meine frühe Kindheit verlangte es so. Genauso wenig ging es um die Frage: Wenn ich nicht so dumm gewesen wäre, Gottfried Lessing aus einer revolutionären Romantik und Unbekümmertheit heraus zu heiraten, dann würde ich jetzt auch nicht zurückfahren und damit alles hinter mir lassen, was mir eigentlich wichtig ist. Welchen Sinn hat es, sich ständig vorzubeten: Ich hätte dieses tun sollen, ich hätte jenes tun sollen. Das Entscheidende war, dass mit meinem Wesen und unter den gegebenen Umständen alles nicht anders hätte kommen können. Und ich war dank des Vorbilds von Kurt und allen anderen, die das Vokabular des Intellektualismus beherrschten, sehr wohl in der Lage, die passenden Etiketten und sogar die passenden Bezeichnungen auf mich anzuwenden. Außerdem gab es noch etwas, weswegen es unvermeidlich

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