Unter der Haut (German Edition)
ausgewählten Situationen. Für mich waren diese Gelegenheiten beinahe unerträglich, und ich beschuldigte sie – im Stillen – voller Bitterkeit, dass sie sich daran ergötzte. Wenn sie dachte:
Geschieht ihr recht!
, dann hätten neunundneunzig von hundert Menschen genau dasselbe gedacht. Nur Dora nicht, die liebe Dora, die mich wirklich nie kritisierte und mit der ich mich oft traf, um mir von den Kindern erzählen zu lassen. Wir saßen dann eine Stunde im Café Pockets und aßen Eiscreme, wobei mir die Beamtengattinnen, an deren vormittäglichen Teepartys ich früher teilgenommen hatte, dann ein wohlabgewogenes Lächeln schenkten, bevor sie sich mit gesenkter Stimme über mich unterhielten. Dora legte jedes Mal die Rolle der alten Ehefrau ab und wurde zwanzig Jahre jünger. Ihre strahlenden, haselnussbraunen Augen blickten freundlich und gewitzt, ihre rosa Lippen verzogen sich aus lauter Freude über ihre Schalkhaftigkeit; sie war dann eine hübsche, amüsante Frau, die kaum jemand je zu Gesicht bekam, am allerwenigsten ihr Ehemann. (Der Witz dabei war aber, dass sie ihm so, wie sie sich gab, wenn sie mit mir zusammen war, sehr gefallen hätte.) »Ach, meine Liebe! Was für eine absolut glänzende Idee, wie absolut klug von ihnen, denn natürlich sollten der arme John und die arme Jean ihre Mutter mit einem neuen Mann und einem neuen Kind erleben. Die armen Kleinen verstehen es zwar
überhaupt nicht
, aber was spielt das schon für eine Rolle? Das
sind
vielleicht kluge Kerle, die Männer aus der Wisdom-Familie. Sie sind ziemlich plemplem, aber das hat nichts zu sagen. Sag mal, meine Liebe, sollen wir völlig über die Stränge schlagen und uns noch ein Eis bestellen?«
Es würde einem sicher schwerfallen, sich für die beiden Kleinen eine Situation vorzustellen, die sie noch mehr verwirrt hätte: Sie standen plötzlich aus heiterem Himmel ihrer leiblichen Mutter gegenüber, doch in deren Armen lag ein neues Kind, und sie hatte einen neuen Mann, der nicht ihr Vater war. Als ich sie später einmal auf diese Begegnungen ansprach, erinnerten sie sich vor allem daran, dass sie sich vor Gottfried gefürchtet hatten. Warum habe ich dabei mitgespielt? Zum einen ist es nicht leicht, sich durchzusetzen, wenn man sich zutiefst im Unrecht fühlt. Zum anderen war ich von starken, sich widersprechenden Strömungen hin- und hergerissen, und das war das Entscheidende. Ich hatte damals das Gefühl – und ich frage mich noch heute, ob ich damit nicht auch ganz richtiglag –, dass es besser gewesen wäre, zwischen den Kindern und mir einen klaren Bruch zu vollziehen, bis sie – wie die Standardformulierung für so etwas lautet – alt genug gewesen wären, um das Ganze zu verstehen. Ich sah mich in meinem eigenen Zuhause, wobei ich allerdings nicht so sehr eine Wohnung oder ein Haus meinte, sondern das Gefühl, dass ich selbst irgendwo eine solide Basis hatte, ganz egal wo, und dass diese Basis nichts mit Geld oder Ansehen zu tun hatte, sondern darin bestand, dass ich eine Identität gewonnen hatte, die mein Verlassen der beiden rechtfertigte. Diese Picknicks damals waren ein Albtraum, und ich habe seither meine Zweifel an den Freuden der Großfamilie. Was die beiden Kinder betrifft, war das Schlimmste, was ich je von ihnen zu hören bekam, dass John – der zu jener Zeit allerdings schon ein erwachsener Mann mittleren Alters war – sagte: »Ich verstehe, warum du meinen Vater verlassen musstest, aber das heißt nicht, dass ich es dir nicht doch verüble.«
Meine Mutter hatte keine Ahnung davon, mit welcher Bitterkeit ich ihr – wenn auch nur im Stillen – Vorwürfe machte oder welch kalte und sinnlose Wut ich empfand. Wie auch? In ihren Augen tat sie nur ihr Bestes, tat sie nur ihre Pflicht. Ganz egal, wo ich gerade war, sie kam überall herbeigeeilt, getrieben von einem Zwiegespräch, das sie im Geiste mit mir geführt hatte und in dem die Richtigkeit ihrer Argumente mich immer überzeugte und mich dazu brachte, allen Plänen zuzustimmen, die sie für mich ausheckte. Doch in dem Moment, in dem sie zu mir kam, spiegelten ihre Gesichtszüge Enttäuschung wider, denn die junge Frau, die ihr gegenüberstand, hatte nicht das Geringste mit der gemein, die sie während des Wortwechsels in ihrer Vorstellung plattgewalzt hatte. »Setz dich doch, Mutter. Willst du eine Zigarette? Eine Tasse Tee? … Nein, Mutter, nein, nein, tut mir leid,
nein
.« Sie wusste inzwischen, dass Gottfried und ich uns scheiden lassen
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