Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
Vom Netzwerk:
draußen, mitten unter ihnen. Aber als der Zug diesmal losfuhr, erschien sie nicht auf dem Gang vor dem Abteil und streckte uns ihre Einkäufe entgegen. Sie war zurückgeblieben. Mein kranker Vater setzte sich aufrecht in die Ecke und versicherte ein ums andere Mal, wir brauchten keine Angst zu haben, sie komme bald wieder, kein Grund zur Sorge, ihr braucht nicht zu weinen. Aber er machte sich Sorgen, und wir merkten das. Damals begriff ich zum ersten Mal, dass mein Vater ohne sie hilflos war. Mit seinem Holzbein konnte er nicht aus dem Zug springen und sich auf der Suche nach etwas Essbarem durch die Menge drängeln. »Ihr musstet euch ein Ei teilen, und ein paar Rosinen, die wir mitgebracht hatten, mehr gab es nicht.« Sie musste wiederkommen, unbedingt, und sie kam auch, aber erst zwei Tage später. Unterdessen hatte sich unser Zug mit quietschenden und kreischenden Bremsen in einen Bahnhof nach dem anderen geschoben, auf Rangiergleise, in Menschenmassen hinein, zwischen die
besprizorniki
, die Soldaten mit ihren Gewehren. Ich erinnere mich nicht mehr an meine Angst und meine Tränen dort, das ist alles weg, nicht aber das Gefühl des groben Stoffes an meiner Wange, wenn ich bei meinem Vater auf dem guten Knie saß und die hungrigen, gaffenden Gesichter am Fenster sah. In seinen Armen war ich sicher.
    Ein kleines Mädchen sitzt im Zug, mit ihrem Teddy und dem winzigen Pappkoffer, in dem Teddys Sachen sind. Sie zieht den Teddy aus, legt seine Kleider ordentlich zusammen, nimmt neue Sachen aus dem Koffer, zieht den Teddy an, sagt ihm, er müsse artig sein und still sitzen, zieht den Teddy wieder aus, legt die Sachen zusammen, holt eine dritte Garnitur hervor, legt die eben ausgezogenen, tadellos zusammengefalteten Sachen in den Koffer, zieht den Teddy an. Immer wieder aufs Neue schafft sie Ordnung in der Welt, bringt sie Ereignisse unter ihre Kontrolle. Da, guter Teddy, hübsch und sauber.
    Aus Moskau stammt die lebhafteste meiner frühen Erinnerungen. Ich stehe in einem Hotelkorridor vor einer Tür, deren Griff hoch über meinem Kopf ist. Die Decke ist sehr, sehr weit oben, und von dem Flur, auf seiner ganzen Länge, gehen diese mächtigen, glänzenden Türen ab, und hinter jeder Tür liegt etwas beängstigend Fremdes, fremde Leute, die plötzlich aus einer Tür treten oder schnell an all den geschlossenen Türen vorbeilaufen, bis sie dort ankommen, wo der Korridor um die Ecke geht, oder hinter einer Tür verschwinden. Ich trommele mit der Faust an die Tür und weine und schreie. Es macht keiner auf. Es macht so lange keiner auf, dass es mir wie eine Ewigkeit vorkommt, aber das kann nicht stimmen, die Tür muss bald geöffnet worden sein, aber in meinem Albtraum bin ich ausgeschlossen und sehe nur die undurchdringliche, hohe, glänzende Tür. Diese verschlossene Tür kommt in tausend Geschichten, Legenden und Mythen vor, die Tür, zu der man keinen Schlüssel hat, die Tür, die irgendwohin führt – aber darum geht es vermutlich gerade.
    Wahrscheinlich haben wir diese verschlossene Tür in unseren Genen – das würde mich nicht überraschen –, und sie hat sich mir für immer ins Gedächtnis eingeprägt als die Tür, vor der ich mich wie Alice im Wunderland emporrecke, um an den Griff zu kommen.
    Und jetzt sind wir in England. Es wäre vielleicht zu fragen, warum die »schönen« Bilderbuch-Erinnerungen aus dem hübschen England – Stockrosen, Cottagegärten, ein strohgedecktes Haus, felsige Wasserbecken am Meer – keineswegs so deutlich sind wie die Erinnerungen an ein trübes England, schwarze, nasse Eisenbahnschienen, an kalten Fenstern hinabströmender Regen, tote, bleiche Fische auf Auslagen direkt an der Straße, blutige Kadaver an großen Stahlhaken in den Metzgereien. Ich lernte meine Stiefgroßmutter kennen, sagt man mir, und es gibt ein Foto von mir auf ihrem Schoß, aber ich kann keine echte Erinnerung an sie ausgraben. Ich lernte den Vater meines Vaters kennen, dessen Frau Caroline May in jenem Jahr gestorben war und der kurz davorstand, seine siebenunddreißigjährige Braut zu heiraten: Wahrscheinlich hatte sie wie alle Frauen der Zeit ihre große Liebe im Schützengraben verloren, und die Heirat mit einem alten Mann war ihre einzige Chance, unter die Haube zu kommen.
    Wir waren ständig auf kleinen Reisen und zu Besuchen unterwegs, Kinder werden eben mitgeschleppt wie Pakete. Eine Miss Steele half bei der Betreuung von uns, und sie ist es auch, die mir eine der deutlichsten Erinnerungen aus

Weitere Kostenlose Bücher