Unter der Haut (German Edition)
jenen sechs Monaten liefert. Ein Hotelzimmer. Wieder ist es mit riesigen Möbeln vollgestopft, die einem den Weg verstellen. Zwei große Betten, eines davon meins, und ein großes Kinderbett. Die Flamme an der Wand, eine Gasflamme, ist gefährlich und muss wie eine Kerze im Auge behalten werden, obwohl sie nicht umkippen kann wie eine Kerze. Sie verbreitet streifiges Licht im Zimmer, in dem die Luft graubraun zu sein scheint. Dunkler Regen fließt an schmutzigen Fensterscheiben hinab. Das feucht-wollene Bündel, in dem sich mein kleiner Bruder verbirgt, schnieft trübsinnig in seinem Kinderbett. Miss Steele hat uns befohlen wegzusehen, wenn sie sich anzieht. Miss Steele ist so groß, dass sie bis an die Decke zu reichen scheint, und die dunklen Haare fluten ihr über die Schultern, über die Vorderseite und den Rücken. Sie trägt ein knallrosa Mieder, blasse Haut quillt hervor und schimmert durch die Haare hindurch, und unten schauen ihre Schenkel heraus. Ich sehe die strahlenden, neugierigen Augen meines Bruders, dann kneift er sie zu und stellt sich schlafend, dann blitzen sie wieder auf. Miss Steele hebt die Arme, um sich ein weißes Leibchen über das volle Haar zu ziehen. Unter ihren Achseln sind seidige schwarze Bärte. Mir ist ganz schlecht vor Neugier und Ekel. Es riecht nach Schmutz und der ungewaschenen Miss Steele, sauer und metallisch, mein Bruder riecht nach nasser Wolle, und mein eigener trockener, warmer Geruch steigt in Wellen zu mir auf, wenn ich die angeschmuddelten Decken anhebe und schnuppere. Die Gerüche Englands, die Gerüche des nassen, schmutzigen, dunklen und unliebenswürdigen England, die Gerüche der Engländer. Ich hatte Heimweh nach Persien und dem reinen, trockenen Sonnenschein, aber ich wusste nicht, was mir fehlte, denn kleine Kinder gehen so sehr in ihrer unmittelbaren Umgebung auf, sind so davon in Anspruch genommen, sich auf den Beinen zu halten oder alles richtig zu machen, dass sie die Sehnsucht nach einem bestimmten Ort noch nicht kennen. So stelle ich mir das wenigstens vor. Vielleicht habe ich auch noch um meine verlorene Liebe getrauert, die alte Katze. Viele Jahre später stand ich in Granada in Spanien und schaute auf die schneebedeckten Berge ringsum und roch die saubere, sonnige Luft, und plötzlich sah ich Kermanschah vor mir: So war es gewesen.
Jetzt frage ich mich natürlich: Wieso erinnere ich mich nicht ebenso intensiv an die lustigen Picknicks im Heu oder die herzerfreuenden Sandburgen oder die lieben Arme von Tante Betty oder Onkel Harry Lott?
Eine böse, ja unheimliche kleine Erinnerung sticht aus allen anderen englischen Erinnerungen hervor. Eine Bildergeschichte in der Zeitung über die Abenteuer von Pip, Squeak und Wilfski muss einer der allerersten Versuche antikommunistischer Propaganda gewesen sein. Wilfski, ein schnauzbärtiger Bösewicht, der aussah wie eine Küchenschabe, sollte Trotzki sein. Er hielt stets eine Bombe in der Hand, mit der er alles und jeden in die Luft zu jagen drohte. Er sollte Angst und Schrecken einflößen, und das tat er auch.
Als wir von England nach Afrika abreisten, stand mein Großvater väterlicherseits, der Witwer, in seinen dicken Tweedsachen in einem dunklen Flur vor einer laut tickenden Standuhr und weinte, und in seinem langen, weißen Bart hing ein Schleimfaden. Das war es, was dem Kind auffiel, denn in den ersten Jahren sind Kinder vorrangig damit beschäftigt, ihre Körperfunktionen unter Kontrolle zu bringen, Schnodder, Kot, Pipi, ein Gefängnis, aus dem sie sich zu befreien suchen und in das sie erst im Alter wieder zurückkehren. Der alte Mann weinte, der Abschied brach ihm das Herz, er hatte seinen Sohn und dessen Frau fünf Jahre nicht gesehen und seine Enkelkinder eben erst kennengelernt, aber jetzt fuhren sie nach Afrika, wo die Missionare, für die seine Kirche Spenden sammelte, Wilde bekehrten, die womöglich gar Kannibalen waren. Die Eltern versprachen vage, nach weiteren fünf Jahren noch einmal wiederzukommen. Er weinte und weinte, und seiner Enkeltochter wurde bei seinem Anblick unbehaglich, und sie ließ sich keinen Kuss geben. Und vielleicht weinte er auch, weil die Familie seine Heirat mit Marian Wolfe, einer »blutjungen« Frau, nicht billigte.
In den letzten Wochen vor der Abreise aus England herrschte rege Betriebsamkeit, weil noch schnell alles gekauft werden musste, was meine Mutter für das Leben brauchte, das sie in Afrika zu führen gedachte. Ihre Informationen entnahm sie den Broschüren
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