Unter der Haut (German Edition)
zerbrechen werde. Da es offensichtlich war, dass er nicht recht hatte, wollte ich mich nicht hinsetzen. Meine Mutter sagte, ich solle mich nicht anstellen. Ich setzte mich auf das Ei, und es zerplatzte unter mir und ruinierte mein Kleid, und der Kapitän brüllte vor Lachen. Ich war nicht nur wütend, sondern fühlte mich verraten. Mein Vater war unangenehm berührt, aber er muss wohl gedacht haben, das Wichtigste sei, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Als wir den Äquator überquerten, warf man mich ins Wasser, obwohl ich nicht schwimmen konnte und von einem Matrosen herausgefischt werden musste. So ging es immer weiter, und ich war ständig wütend und träumte schlecht. Ich glaube, meine Mutter hat sich so gut amüsiert, dass ihre sonst so übertriebene Sorge um ihre Sprösslinge Urlaub hatte. Sie pflegte nämlich sonst Albträume nicht leichtzunehmen – wenn man ihr davon erzählte. Aber war da nicht auch Biddy, um auf uns aufzupassen?
Mir scheint, als wären in dieser Freundschaft zwischen meiner Mutter und dem deutschen Kapitän zwei Arme eines Flusses zusammengeflossen. Das Foppen und Necken stammte von den englischen Privatschulen, die sie so sehr bewunderte, und diese wiederum gingen auf die preußischen Eliteschulen zurück, in denen Kinder grausam malträtiert wurden. Der Kapitän wird kaum der preußischen Elite angehört haben, aber diese Vorbilder guten Lebens entfalten ihre Wirkung auch in den weniger gehobenen Schichten. Und war meine Mutter grausam? Ganz sicher nicht. Aber wir sind alle in der Lage, uns so zu verhalten, wie es der gute Ton gerade verlangt. Fast alle jedenfalls.
Abends zog sie ihre eleganten Abendkleider an und begab sich zum Essen an den Kapitänstisch, zu den Partys, den Tanzabenden, den Schatzsuchen. Biddy O’Halloran ebenfalls. Wir Kinder wurden in die Kabine eingeschlossen und angewiesen, brav zu sein. Mein Bruder legte sich, wie immer gehorsam, schlafen. Ich wollte dabei sein, wo etwas los war. Aber meine Mutter sagte, die Abende seien für die Erwachsenen und würden mir keinen Spaß machen. Ich wusste aber, dass sie mir Spaß machen würden, und sie wusste auch, dass sie mir Spaß machen würden. Ich hasste sie. Es half nichts, die Tür war abgeschlossen. Ich kletterte auf die Frisierkommode und fand eine Nagelschere und schnitt Löcher in eines ihrer Abendkleider. Kleine Hände, die Nagelschere klitzeklein, und es war schwierig, damit in den dicken, glatten Stoff zu schneiden. Ich kann keinen großen Schaden angerichtet haben, aber was zählt, ist die Idee. Ich heulte und jaulte vor Wut. Nein, bestraft wurde ich nicht. Aber ich musste auf ihrem Schoß sitzen und eine dieser Szenen über mich ergehen lassen, in denen sie mit leiser, vorwurfsvoll zitternder Stimme eindringlich von gutem Benehmen sprach und von Liebe – ihrer Liebe, und vom Bravsein um des Bravseins willen.
Doch neben dem Verrat und den Ungerechtigkeiten ging auch das Bildungsprogramm weiter, denn das war schließlich die Hauptaufgabe meiner Mutter. Kleine Kinder wurden von ihren Eltern auf den Arm genommen, damit sie Fliegende Fische sehen konnten, Delfine, die Farben der Sonnenuntergänge, vorbeifahrende Schiffe, deren Schornsteine graue Rauchfahnen über den blauen Himmel hinter sich herzogen, die Vögel auf der Reling und dem Tauwerk, die Möwen, die tief unten hinter dem Schiff herflogen, wo sie die Abfälle auffingen, die die Seeleute ihnen zuwarfen, das Leuchten der Wellen bei Nacht, das Mondlicht und die Rettungsbootübung – wobei Letztere alles andere als eine harmlose Übung war, wo doch ihre große Liebe, der junge Arzt, ertrunken war, weil es nicht genug Rettungsboote gegeben hatte. Und dank des besonderen Entgegenkommens des Kapitäns führte man uns durch die Welt der hellen Korridore tief nach unten, bis wir plötzlich in einer anderen Welt waren, wo steile Eisentreppen fettig glänzten und sich dicke, schwarze Rohre über Stahlmauern wanden. Mein Bruder und ich klammerten uns aneinander und standen staunend auf einer Plattform, die mir winzig klein vorkam, nur Teil eines Laufgangs in den Bauch des Schiffes, in dem schmutzige, halb nackte Männer Kohlen in Kesselschlünde schaufelten, eins, zwei, drei, vier – mehr, wir konnten sie nicht zählen, und die Flammen schossen hoch und warfen rotes Licht auf die nackten, schweißnassen Oberkörper. Die Männer blickten auf und sahen zwei kleine, saubere Kinder, zwei kleine Privilegierte, die mit entsetzten Gesichtern zu ihnen
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