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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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der Empire Exhibition, von der auch die Anregung gekommen war, nach Südrhodesien zu gehen, um Mais anzubauen und innerhalb von fünf Jahren reich zu werden. Für meinen Vater erfüllte sich damit der Traum, das zu werden, was er immer hatte sein wollen, schon seit seiner Kindheit auf dem Lande, als er sich mit den Bauernsöhnen um Colchester die Zeit vertrieben hatte. In seiner Familie hatte es früher schon Bauern gegeben. Aber er hatte nie das nötige Geld für einen landwirtschaftlichen Betrieb gehabt. Natürlich, je mehr Ausstellungen ein Land veranstaltet, desto besser, das versteht sich von selbst. Die Empire Exhibition, die große Reichsausstellung von 1924 , die meinen Vater nach Afrika lockte – wie oft habe ich in Memoiren, Romanen, Tagebüchern von ihr gelesen. Sie hat das Leben meiner Eltern verändert und bestimmt, wie das meine und das meines Bruders verliefen. Wie Kriege und Hungersnöte und Erdbeben stellen solche Ausstellungen Weichen für die Zukunft.
    Neben den Einkäufen bei Harrods, Liberty und in den Army & Navy Stores ließen sich beide alle Zähne ziehen. Auf Empfehlung des Zahnarztes und des Hausarztes. Zähne könnten jede Menge Krankheiten und Schmerzen verursachen, sie seien zu nichts nütze, und außerdem gebe es keine guten Zahnärzte in Südrhodesien (was nicht stimmte). Diese barbarische Form der Selbstverstümmelung war damals weit verbreitet. »Und doch brennen wir weiter Kerzen in Kirchen ab und gehen zum Arzt.« – Proust.
    Die Familie stand an Deck des deutschen Schiffes und sah zu, wie die Kreidefelsen an Englands Küste kleiner wurden. Meine Mutter weinte. Auch mir machte Trennungsschmerz das Herz schwer, aber ich kann nicht um England geweint haben, weil es mir dort gar nicht gefallen hatte. Mein Vater hatte nasse Augen, aber seiner Frau legte er den Arm um die Schultern und sagte: »Nun komm schon, meine Gute!« Und drehte sie von den verschwindenden Klippen weg, um sie nach drinnen zu führen.
    Mit bei uns an Deck stand außer meinem kleinen Bruder auch Biddy O’Halloran, unsere künftige Hauslehrerin. Ich weiß kaum mehr über sie als das, was man mir erzählt hat. Sie war einundzwanzig. Sie kam aus Irland. Sie war »flott«, eine moderne junge Frau mit kurzen Haaren und kurzen Kleidern. Sie war keinen Deut besser, als man es von ihr erwarten durfte. Warum? Sie trug einen Bubikopf, schminkte sich und rauchte und zeigte zu viel Interesse an Männern. Im Nachhinein bereute meine Mutter, dass sie Biddy das Leben so schwergemacht hatte. Das war, als sie selbst auch rauchte, sich die Haare abschnitt und manchmal Lippenstift benutzte. »Was wohl aus ihr geworden ist?« – für Biddy muss die Erfahrung so unangenehm gewesen sein, dass sie uns nie schrieb. Sie heiratete später einen Parlamentsabgeordneten, und man las ihren Namen in den Klatschspalten der Zeitungen.
    Für mich war sie nur eine unter vielen Menschen, die in meinem Leben auftauchten und wieder verschwanden. Bekannte, Liebhaber, Freunde, Vertraute – weg sind sie. Ade. Bis zum nächsten Mal.
A bientôt. Poka. Tot siens. Arrivederci. Hasta la vista. Auf Wiedersehen. Do swidanja.
Ganz im Stil der heutigen Zeit.
    Es war eine lange, viele Wochen währende Reise. Ein langsames Schiff. Warum ein deutsches Schiff? Vielleicht setzte mein Vater sein Gefühl der Kameradschaft mit den deutschen Soldaten, die von ihrer Regierung genauso verschaukelt worden waren wie die Tommys in England und die Poilus in Frankreich, in die Praxis um.
    Mein Vater war fast während der ganzen Fahrt nach Kapstadt und weiter nach Beira krank. Meine Mutter kostete jede Sekunde aus. Es muss das letzte Mal in ihrem Leben gewesen sein, dass sie sich mit so etwas wie Deckspielen oder Bridge oder Kostümfesten und Tänzen und Konzerten vergnügte: Es lag ihr sehr.
    Auf diesem Schiff machte ich der Familie Schande. Ich war todunglücklich. Da war zunächst der Kapitän, mit dem meine Mutter dick befreundet war; sie war mit ihm oben an Deck geblieben, als alle anderen bei Windstärke neun seekrank in ihren Kojen lagen, und so hatte sich zwischen ihnen eine kameradschaftliche Freundschaft entwickelt. Sie neckten sich, nahmen sich gegenseitig auf den Arm, zogen sich auf. »Foppten sich«. Zwischen ihnen herrschte eine herzliche Ausgelassenheit, und der Kapitän dachte sich ständig Streiche aus. Als ich mein schönstes Kleid anhatte, forderte er mich auf, mich auf ein Kissen zu setzen, auf das er ein rohes Ei gelegt hatte, und schwor, dass es nicht

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