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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Süden warme, im Norden kalte Zugluft herein. Ich hielt mein Gesicht in den Wind, weil es im Abteil so stank. Es war April. Mein Vater hatte die Grippe und lag in einer der oberen Kojen, möglichst weit entfernt von uns beiden lauten Kindern und unseren ständigen Wünschen. Meine Mutter hatte Angst: Die große Grippe-Epidemie war zwar vorüber, aber wie bedrohlich sie gewesen war, konnte man den Stimmen der Leute noch jahrelang anhören. Die Sitze waren mit kleinen, blutigen Punkten und Spritzern gesprenkelt, ein Zeichen, dass Läuse da gewesen waren. Jahre später musste ich einmal ergründen, warum die Worte Grippe und Typhus mir Angst einjagen. Grippe, das war nicht schwer, aber Typhus? Das kam von dieser Reise.
    Noch jahrelang sah ich, wenn ich das Wort »Russland« hörte, Bahnhöfe und Bahnsteige vor mir, denn der Zug hielt auf der Fahrt von Baku nach Moskau ständig, an kleinen Stationen ebenso wie in den großen Städten.
    Der Zug ächzte und klapperte und quietschte und kam schwerfällig zwischen Menschenmassen zum Stehen, und die Menschen machten mir Angst, weil sie ganz anders waren als die Perser. Sie waren zerlumpt, manche trugen nichts als Fetzen, hatten sogar die Füße mit Lappen umwickelt. Kinder mit spitzen, hungrigen Gesichtern sprangen an den Wagenfenstern hoch und gafften oder streckten uns bettelnd die Hände entgegen. Dann sprangen Soldaten vom Zug und drängten die Leute zurück, die Gewehre wie Stöcke erhoben, um notfalls zuzuschlagen, und die Massen wichen vor den Soldaten zurück, nur um sich danach wieder vorwärtszuschieben. Einige Leute lagen auf dem Bahnsteig, ihre gebündelten Habseligkeiten unter dem Kopf, und betrachteten den Zug, ohne etwas zu erwarten. Meine Eltern redeten über sie, und ihre Stimmen waren leise und ängstlich, und sie benutzten Wörter, die ich nicht kannte, weshalb ich immer wieder nachfragte: Was heißt das, was heißt das? Weltkrieg. Revolution. Bürgerkrieg. Hungersnot. Bolschewiken. Aber warum, Mami, aber warum, Papi? Da man uns erzählt hatte, dass die
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 – die Banden der Kinder, die keine Familien mehr hatten – die Züge überfielen, wenn sie an den Bahnhöfen hielten, wurden, sobald meine Mutter ausgestiegen war, um Lebensmittel zu kaufen, die Tür zu unserem Abteil abgeschlossen und die Fenster zugesperrt. Die Türschlösser aber waren nicht sicher, und wir schoben Koffer davor. Das hieß, dass mein Vater aus seiner hohen Koje herunterklettern musste. Er trug seinen dunklen, schweren Morgenmantel, der gekauft worden war, um ihn im Stellungskrieg warmzuhalten, aber darunter behielt er die Halterungen für das Holzbein an, um es notfalls rasch anschnallen zu können. Unterdessen schaute dann und wann der bleiche, narbige Stumpf aus dem Morgenmantel hervor, weil dieser, wie mein Vater zum Spaß sagte, ein Eigenleben führte und nicht wissen konnte, dass er nur ein Teil eines Beines war. Und in Augenblicken, die eine Reaktion erforderten, etwa wenn mein Vater sich vorbeugte, um meiner Mutter – die uns triumphierend ihre Einkäufe entgegenstreckte, ein paar Eier, ein Stückchen Brot – die Abteiltür zu öffnen, versuchte dieser Stumpf, sich wie ein Bein zu verhalten, und streckte sich instinktiv vor, um sein Gewicht aufzufangen. Voller Angst beobachteten wir zwei kleinen Kinder unsere Mutter dort draußen in der bedrohlichen Menschenmenge, wie sie den Bauersfrauen Geld für die hart gekochten Eier hinhielt und für die halben Laibe aus dunklem, saurem Zeug, das sie Brot nannten. Es hieß, dass wir Hunger litten, weil es nicht genug zu essen gab, aber ich erinnere mich nicht daran, hungrig gewesen zu sein. Nur an die Angst beim Anblick der Menschenmassen, die so fremdartig, so anders waren als wir, und der zerlumpten Kinder, die keine Eltern mehr hatten und niemanden, der für sie sorgte. Wenn sich der Zug ruckartig wieder in Bewegung setzte, sprangen die Soldaten auf, das wenige, was sie von den Frauen ergattert hatten, fest umklammert, drehten sich um und richteten ihre Gewehre auf die Kinder, die hinter dem Zug herliefen.
    Man erzählte uns, dass wir vorgelesen bekamen, mit Knetmasse spielten, mit Kreide Bilder malten, aus dem Fenster schauten und Telegrafendrähte zählten und »Ich sehe was, was du nicht siehst« spielten, aber in meiner Erinnerung rattert der Zug lediglich abermals in einen Bahnhof – das war doch bestimmt wieder derselbe? –, und ich sehe zerlumpte Leute, zerlumpte Kinder. Und wieder war meine Mutter dort

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