Unter der Haut (German Edition)
Lebensmitteltüten ein, las das Großgedruckte oben auf den Zeitungsseiten, den
Army & Navy Catalogue
, Bildunterschriften – und schließlich richtige Bücher. Mein Bruder und ich nahmen an Fernkursen teil, die der Staat für die Kinder der Farmer eingerichtet hatte.
So war der Gang der Ereignisse, und der hat wenig mit dem zu tun, was mir im Gedächtnis geblieben ist, die Chronik in kindlicher Zeit.
Biddy O’Halloran lehnt sich an den Jagdstuhl meines Vaters, wir befinden uns auf dem großen Feld unterhalb des Hügels, und ringsum wimmelt es von Heuschrecken und Schmetterlingen. Sie hat eine Blinddarmoperation hinter sich, und sie sagt meinem kleinen Bruder, er soll den Mund zumachen, sonst springt ihm eine Heuschrecke in den Blinddarm und bohrt sich durch seinen Bauch wieder nach draußen. Er weint vor Angst. »Natürlich ist das Blödsinn«, ruft meine Mutter später, als wir zu Bett gehen und der kleine Junge schluchzt. Aber mein Bruder erzählte mir noch viele Jahre danach, dass er eine unsinnige Angst vor Heuschrecken habe; ich konnte ihm den Grund nennen. »Meinst du wirklich, das war alles?«, fragte er. Er versuchte darüber zu lachen, war aber schockiert, dass eine solche Kleinigkeit ihn so lange beeinflusst hatte.
Biddy O’Halloran hatte helle Haut, im V-Ausschnitt ihres Baumwollkleides war sie leicht gerötet. Betrachtet mit den neugierigen Augen eines Kindes, erwies sie sich als hochrot und sahnig weiß gefleckt. Zwei kleine Kinder diskutieren ernst, wie rote Götterspeise und Sahne unter Biddys Haut kommen. »Es ist durch ein Loch gegossen worden und hat sich dann ausgebreitet.« Wir dachten uns Ausreden aus, um ihr ganz nahe zu kommen, wurden getadelt, weil wir sie anstarrten, berichteten einander, dass kein Loch zu sehen sei. Also musste sie sich die Götterspeise aufgeschmiert haben, und dann war sie in die Haut eingedrungen. »Mami, wie ist die rote Götterspeise mit Sahne unter Biddys Haut gekommen?« »Welche rote Götterspeise? Was für ein Unsinn!« Wir saßen mit den Katzen und Hunden unter dem vorspringenden Strohdach und diskutierten ernst und wissenschaftlich über das Rätsel. »Vielleicht ist es gar keine Götterspeise, sondern Blut vom Roastbeef?« »Aber was ist dann das Weiße?«
Oder langes, gedankenvolles Betrachten der Fingernägel von Erwachsenen, wo mitten im Rosa ein heller Fleck ist. »Mami, warum hat Gott deinen Fingernagel nicht fertig gemacht?« »Wieso ist er nicht fertig?« »Guck, da ist ein Loch.« »Was für ein Loch? Das ist kein Loch!« Die Haare auf dem Unterarm eines Erwachsenen, jede einzelne goldene Borste in einem kleinen Trichter brauner Haut. Die Gerüche. Biddy hatte einen säuerlichen Geruch, der scharf in der Nase stach, wenn sie sich parfümierte. Meine Mutter roch energisch und salzig. Mein Vater männlich, muffig und nach Rauch.
Wir sahen vom Waldrand aus zu, wie meine Mutter Biddy zeigte, dass sie blutige Lumpen in einem Benzinkanister einweichen sollte, hinter dem Haus unter dem Dachvorsprung. Dazu ihre dramatisch geheimnisvolle Miene, ihre dramatisch gesenkte Stimme. Biddys bewusst gelangweilte, gereizte Bewegungen. Wir wussten, dass die »Boys« den Inhalt dieses Kanisters nicht sehen sollten. Als die Frauen fort waren, schlichen wir uns zum Kanister und spekulierten: Biddy hatte sich in den Finger oder den Fuß geschnitten, das musste es sein. Aber warum durften die »Boys« nichts davon wissen? Wir verletzten uns ständig oder schürften uns die Knie auf, und manchmal wuschen die »Boys« uns dann das Blut ab. Warum also …?
Die Erwachsenenwelt mit ihrem Chaos, ihren Widersinnigkeiten, ihren Rätseln; zwei kleine Kinder, die versuchen, die Dinge zu sortieren und mit den richtigen Namen zu benennen …
Ich liege auf meinem Bett und lese Walter De la Mares
The Three Royal Monkeys.
Einer der Affenbrüder verspeist eine Apfelsine und glaubt, sie wäre eigens in Spalten aufgeteilt, damit sie sich zerteilen und verzehren ließe. Mir leuchtet das nicht ein. Die Apfelsinenspalten, die ich beim Lesen esse, sind zu groß für meinen Mund, dabei bin ich größer als die kleinen Affen, die wir unten am Hügel durch die Bäume flitzen sehen und die manchmal ins Haus kommen und die Dachbalken inspizieren, bevor sie wieder in die Bäume fliehen. Meinte der Affe im Buch jene kleinen Tröpfchen Apfelsinensaft, jedes für sich in einem prallen Beutel, die ich immer auf der Zunge zerplatzen lasse, sodass mir der frische Geschmack über den Gaumen flutet?
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