Unter der Haut (German Edition)
Tageslicht hell und frisch, nachts jedoch wie verwandelt. Auf einem kleinen, in den Raum ragenden Tisch, um den man immer herumgehen musste, standen heilige Gegenstände, Statuetten, klein wie die Zuckergussfiguren auf einer Torte; ein großes Bild von einem Mann, aus dessen Kopf – wie hinter einer Sturmwolke hervor – Strahlen schossen und der gebieterisch auf sein großes, bluttriefendes Herz zeigte. An der Wand gegenüber von diesem Altar hing ein großes Bild von einem Mann, auf dessen Haupt ein gewaltiger Kranz aus Christusdornen gedrückt war, schwarze, bis zu fünf Zentimeter lange Stacheln, und von den Dornenspitzen rann Blut über das Gesicht. Andere Bilder zeigten einen Mann, der mit Pfeilen gespickt war, die wie Stachelschweinborsten abstanden, jeder in einer blutigen Wunde, und eine Frau mit einem Teller in den Händen, auf dem zwei Klumpen rosafarbenen Puddings in roter Marmeladensoße lagen, die sich bei näherem Hinsehen jedoch als ihre abgeschnittenen Brüste entpuppten. Auf einem weiteren Bild stand eine Frau lächelnd auf einem Scheiterhaufen, in Erwartung des Feuertodes, umgeben von Flammen, die sie wie lange Hexenfinger umzüngelten.
Als ich kürzlich durch die ländliche Umgebung von München fuhr, stieß ich überall auf schreckliche Standbilder von Christus als Märtyrer. Sie standen an oder in einem hübschen Bach, in einem Wald, einem Feld, einem Garten. Sie erinnerten mich an die blutrünstigen Bilder, die in der Klosterschule für den Unterricht benutzt wurden. Die Nonnen aus dem Kloster stammten größtenteils aus Süddeutschland, dem Lande Hitlers. Der Sadist Stalin ging aus einem Priesterseminar hervor. An diese blutigen Orgien musste ich denken, als ich in Peshawar miterlebte, wie schiitische Moslems den Mord an Hasan und Husain, den Enkelsöhnen des Propheten Mohammed, vor mehr als 1300 Jahren feierten. Dort rannten und stolperten junge Männer in großen Horden durch die Straßen und geißelten sich mit schweren Ketten oder Peitschen, die Blicke leer oder vor Schmerzen erstarrt, bis sie umfielen und von Unfallwagen eingesammelt wurden, die extra zu diesem Zweck in den Straßen patrouillierten. Vergeben Sie mir die Banalität dieses Gedankens, aber mit der Menschheit liegt irgendetwas sehr im Argen.
Die jüngsten Kinder in dem großen Martersaal waren fünf oder sechs, die ältesten zehn und elf.
Wenn wir in unseren Betten lagen, wurde das Licht gelöscht, aber die rote Kerze, die immer vor dem Herz-Jesu-Bild mit den blutigen Wunden brannte, tauchte den Raum in rote Farben. Die Nonne, die bei uns Kleinen Nachtdienst hatte, stellte sich in die Tür, das Licht in ihrem Rücken, und sagte mit schwerem deutschem Akzent: »Ihr kleinen Kinder glaubt, dass ihr in euren Betten sicher seid, das denkt ihr doch, nicht wahr? Nun, ihr irrt euch. Ihr denkt, der liebe Gott kann euch nicht sehen, wenn ihr unter eurem Laken liegt. Aber denkt noch einmal darüber nach. Der Herr kennt eure Gedanken, der Herr kennt das Böse in euren Herzen. Ihr seid böse Kinder, Gott und den braven Nonnen gegenüber ungehorsam, die euch zum Ruhme Gottes behüten. Wenn ihr heute Nacht sterbt, werdet ihr in die Hölle kommen, und dort werdet ihr im Höllenfeuer braten, ja, ich sage es euch, und ihr müsst mir glauben. Und die Würmer werden euch zerfressen, und es wird kein Ende haben, es wird niemals zu Ende gehen, nie.« In diesem Stil redete sie zehn Minuten oder noch länger auf uns ein. Wenn sie uns gründlich genug zur Hölle geschickt hatte, schlug sie die Tür zu und überließ uns unseren Gedanken.
Verzweifeltes Schluchzen und unterdrückte Angstschreie. Die älteren Mädchen schlichen an die Betten der kleineren, um sie zu trösten. »Das ist nur katholisch«, sagten sie, »wir glauben das alles nicht.« Denn die meisten von uns waren Protestanten. Die katholischen Mädchen wurden von Rosenkränzen beschützt, von Heiligenbildchen und Weihwasserfläschchen unter den Kissen.
Als meine Eltern mich gewarnt hatten, dass die Katholiken versuchen würden, mich zu »kriegen«, hatten sie Szenen wie diese nicht vorhergesehen, und ich wusste, dass sie darüber entsetzt gewesen wären. Das gab mir Rückendeckung; außerdem kann man Dinge gleichzeitig glauben und nicht glauben. Ich weiß nicht, über wie viele Jahre sich diese grauenhaften Predigten fortsetzten: Der Eindruck des ersten Trimesters war so stark, dass ich alles andere vergessen habe, ich erinnere mich nur noch, wie ich im Bett lag und auf das Blut
Weitere Kostenlose Bücher