Unter der Haut (German Edition)
starrte, das von dem großen Herzen tropfte wie von einem frischen Stück Fleisch, und mir einredete, dass es sich bewegte, bis ich glaubte, dass ich das Blut tatsächlich tröpfeln sehen konnte, aber gleichzeitig genau wusste, dass es nicht so war. Die ganz Kleinen – ich gehörte mit meinen acht Jahren schon zur mittleren Gruppe – schrien häufig im Schlaf auf. Hin und wieder wanderte ein Mädchen schlafend zwischen den Betten umher, und eines der älteren führte sie dann behutsam wieder zu ihrem eigenen Bett. Ein schlafwandelndes kleines Kind versuchte beharrlich, in das Nachbarbett zu klettern, weil dort ein freundliches älteres Mädchen lag, das in dem Moment, da die Kleine endlich eingeschlafen war, still in das andere Bett umstieg, ohne dass die Nonnen je etwas merkten. Morgens hatten viele der Betten dunkle Urinflecken. Die Nonnen schimpften und verteilten Strafen: Die katholischen Mädchen mussten eine Unzahl Ave-Marias aufsagen, für uns gab es Verwarnungen und Drohungen.
Die Nonne, deren Begabung in der Beschwörung des Höllenfeuers und der nimmersatten Würmer bestand, schlug uns mit einem Lineal auf die Finger, wenn wir ungezogen waren. Es gab tausend kleinkarierte Regeln, die ich alle vergessen habe, sodass ich mich nur noch an den heimlichen Spott erinnere, den sie bei uns auslösten: Wir schützten uns, indem wir die für die Schlafsäle zuständigen Nonnen verachteten, uns über ihren Akzent lustig machten und uns erzählten, dass man sie als Lehrerinnen eingesetzt hätte, wenn sie nicht so dumm wären. Die meisten Regeln betrafen das Waschen. Es waren nicht etwa Waschgebote, sondern -verbote. Reinlichkeit hieß für diese Frauen dem Teufel Tür und Tor öffnen. Wir durften unsere Hände nur bis zu den Handgelenken waschen und die Ärmel nicht aufkrempeln. Nur das Gesicht durfte gereinigt werden, und zwar mit einem dick mit Seife eingeriebenen Waschlappen: Wenn die Augen brannten, mussten wir den Schmerz aus Liebe zu Gott erleiden. Wir durften nur einmal in der Woche baden. Die Nonnen sagten uns, dass artige Kinder mit dem Brett badeten, das im Bad stets an der Wand lehnte. Das Brett hatte ein Loch für den Kopf und war so geschnitten, dass es auf dem Wannenrand auflag, damit man seinen Körper nicht sehen konnte. Doch das machte keine von uns mit. Wir durften die Wäsche einmal in der Woche wechseln. Wir stanken. Sämtliche Briefe wurden von den Nonnen gelesen, und als ich meiner Mutter von den Baderegeln berichtete, nannte die Nonne das unloyal und zwang mich, einen neuen Brief zu schreiben. Doch in den Ferien »verpetzte« ich die Nonnen, und meine Mutter wurde fuchsteufelswild und meldete Protest an – und von da an durften wir zweimal in der Woche baden und zweimal wöchentlich die Wäsche wechseln. Wir stanken trotzdem noch. Wir mussten schmutzige Unterhosen und stinkende Socken anziehen. »Eitelkeit«, sagte Schwester Amelia oder Brunhilde oder sonst eine, »alles ist Eitelkeit. Ihr sollt nicht an euren Körper denken.«
Es kursierten die üblichen Schulgerüchte über Schläge mit dem Lineal auf die Handinnenflächen. Wir kicherten darüber und rieten uns gegenseitig, die Hände mit Seife einzureiben, und erzählten uns Geschichten über eine ehemalige Schülerin, die man so geschlagen hatte, dass die Hand abgefallen war, und die jetzt eine künstliche Hand hatte. Alles war so, wie es auf Schulen dieser Art eben immer ist. Doch die Lineale hinterließen nichts weiter als heiße, rote Striemen auf den Handflächen, auf andere Körperteile durften die Nonnen uns nicht schlagen. Es hätte alles viel schlimmer sein können. Und ich erinnere mich nicht, dass wir von den Größeren drangsaliert worden wären, im Gegenteil, die Großen gingen zartfühlend mit den Kleinen um, weil sie noch wussten, wie unglücklich sie selber gewesen waren.
Die Atmosphäre im Kloster kann, kurz gesagt, nur als ungesund bezeichnet werden, ein Lieblingswort meiner Mutter. Wie viel hat sie von dem Leben dort gewusst? Wenn ich ihr erzählte, wie selten wir baden durften, warum schwieg ich über die bösen Schläge mit dem Lineal und die Höllenfeuerpredigten? Wenn »Tigger« aus der Schule berichtete, dann zog sie immer alles ins Lächerliche. Von den sadistischen Bildern in unserem Schlafsaal muss meine Mutter im Übrigen gewusst haben, denn sie hatte die Klosterschule gründlich inspiziert. Doch schließlich hatte auch sie eine strenge, harte Erziehung hinter sich.
Die Nonnen machten nicht den geringsten
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