Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
Vom Netzwerk:
Versuch, die protestantischen Mädchen zu »kriegen«. Das hatten sie gar nicht nötig. Die geheimnisvoll magische Atmosphäre reichte vollauf. Antonia White schildert in ihrem Buch
Frost in May
die Verlockungen des Verbotenen, auch wenn die Klosterschule bei ihr vornehmer ist. Die meisten von uns wollten zu irgendeinem Zeitpunkt katholisch werden, einfach, um genauso zu sein wie die katholischen Mädchen, die ihre Finger an jeder Tür in die Weihwasserbecken tauchten, sich bekreuzigten und knicksten, wenn sie an Christus- oder Marienfiguren vorbeikamen, Heiligenbildchen in der Tasche und Rosenkränze um die Handgelenke hatten. Ständig liefen sie zu irgendwelchen Feierlichkeiten in die Kathedrale. Mehrmals am Tag läuteten die Glocken in der Kathedrale eine Straße weiter zum Angelusgebet und zur Messe. Aus der Nonnenkapelle klang ebenfalls Glockengeläut herüber. Die Jungfrau Maria, eine freundliche und wohltätige Gestalt, wurde häufig auf einer mit buntem Papier geschmückten Sänfte über das Gelände getragen. Vor allem lockte das Geheimnis der Klosterbereiche, zu denen uns der Zutritt verwehrt war. Wir glaubten, dass dort Hunderte von Nonnen lebten, aber vielleicht waren es auch nicht mehr als fünfzig. Die meisten bekamen wir nie zu Gesicht. Sie arbeiteten in den Küchen, kochten uns und sich das Essen, hielten die Klosterräume und das Gelände sauber – es gab keine schwarzen Dienstboten. Einige wurden jeden Tag mit Lastwagen zu den Gemüsegärten gefahren. Alle standen morgens sehr früh auf, um vier Uhr, manche sogar noch eher. Wenn wir nachts aufwachten, konnten wir den lieblichen Gesang der hohen Stimmen aus der Kapelle hören. Häufig fanden Beerdigungen statt. Wenn wir genug bettelten, durften wir protestantischen Mädchen mit den Katholikinnen auf dem Lastwagen zum Friedhof fahren, wo wir mit romantisch-verklärtem Blick auf den violinförmigen Sarg stierten, weiß und rosa wie eine Zuckergusstorte, darauf eine Botschaft in Goldbuchstaben: Schwester Harmonia, Braut Christi, RIP . Sie sei viel zu jung gestorben, sagten die anderen Nonnen. Der Gedanke, dass ein Mensch von achtzehn oder zwanzig als jung galt, schockierte uns in unserem Alter, denn wir konnten kaum glauben, dass wir jemals so alt sein würden wie diese tote Frau.
    Heute glaube ich, dass diese jungen Mädchen an gebrochenem Herzen starben. Es waren fast alles arme Bauernmädchen aus Deutschland. Die wirtschaftliche Not in Europa wirkte bis in das Kloster nach Salisbury in Südrhodesien fort. Deutschland hatte sich vom Ersten Weltkrieg und den Reparationszahlungen nicht erholt. Wie es seit vielen Jahrhunderten in Europa üblich war, gingen ein bis zwei Mädchen aus den ärmeren Familien ins Kloster, damit ihre Familien sie nicht zu ernähren brauchten. Sie landeten viele Tausend Kilometer von zu Hause entfernt in diesem wildfremden Land, wo sie (wie auch schon vorher) harte körperliche Arbeit leisten mussten, jetzt aber in großer Hitze und ohne die Aussicht, ihre Familien jemals wiederzusehen. Ihr einziger Trost dürfte in der Vorstellung bestanden haben, dass ihre Einsamkeit und ihr Exil das Leben zu Hause leichter machten. Einmal, als ich im Krankenzimmer lag, setzte sich eine Nonne (gegen die Regel) zu mir ans Bett, während die Angelusglocke zum Gebet läutete und der Himmel leuchtend rot erglühte. Sie weinte und bekreuzigte sich abwechselnd und erzählte mir, dass sie sich nach ihrer Mutter sehne. Dann sprang sie auf, bat die Heilige Jungfrau Maria um Vergebung, sagte mir, ich möge vergessen, was sie gesagt habe, und lief hinaus. Sie war achtzehn.
    Die Vorstellung, die wir uns über das heimliche Leben der Nonnen machten, war unschuldig. Heutzutage würden sich fünf- bis sechsjährige Kinder wahrscheinlich kenntnisreich über lesbische Liebe unterhalten. Ihre Badeordnung versöhnte uns halbwegs mit den uns auferlegten Geboten. Sie badeten einmal in der Woche, in einen weißen Schleier gehüllt, mit dem Brett um den Hals. Sie sahen sich nie im Spiegel, hatten kahl geschorene Köpfe und wechselten selten ihre Untergewänder. Wir wussten, was sie anhatten, denn wir konnten kilometerweise weiße Gewänder an den Wäscheleinen hängen sehen. Unter den schweren, weißen Sergetrachten trugen sie Schicht um Schicht Hemden und Hosen und Unterröcke, und darüber kamen die schwarze Tracht, das eng anliegende, gekräuselte Kopftuch und die beiden Stoffschleier, weiß und schwarz. Die Nonnen rochen widerlich.
    Die Nonnen, die wir im

Weitere Kostenlose Bücher