Unter der Haut (German Edition)
und sich gedacht: »Schade um die schönen Bücher. Für die armen Heiden in Afrika sind sie gerade recht!«
Ich war vier Jahre auf der Klosterschule. Oder eine Ewigkeit. Ich wachte morgens mit dem Glockenschlag auf und glaubte nicht, dass ich den endlosen Tag bis zum Abend überstehen würde. Und hinter diesem endlosen Tag lag der nächste. Und danach wiederum der nächste. Mich hatte das Heimweh befallen wie eine Krankheit. Heimweh ist eine Krankheit. Als ich mit Ende sechzig unter Depressionen litt, dachte ich: Mein Gott, das ist ja das, was ich als Kind durchgemacht habe, und ich habe ganz vergessen, wie furchtbar es war. Wonach sehnte ich mich? Nach zu Hause. Ich wollte heim. Ich wollte zu meiner Mutter, meinem Vater und meinem kleinen Bruder, der noch zu Hause lebte, bis er acht wurde. Ich wollte zu meinen Hunden und meinen Katzen. Ich wollte bei den Vögeln und den Tieren im Busch sein. Ich wollte … ich lechzte … ich sehnte mich danach, dass diese Qualen endlich vorübergingen. Ich glaubte nicht, dass sie je vorbei sein würden. Ich habe mit Männern gesprochen, die als Siebenjährige nach England auf die Schule geschickt worden sind, und einige von ihnen können sich bis heute daran erinnern, wie schrecklich diese Zeit gewesen ist. Es muss mittlerweile Hunderte von Memoiren und Autobiografien geben, in denen die Not kleiner Kinder, die man zu jung ins Internat geschickt hat, beschrieben wird. Es ist schrecklich, kleine Kinder ins Internat zu geben. Wir alle wissen das. Und doch machen Leute, die sich noch sehr gut daran erinnern, wie sie gelitten haben, als sie mit sieben oder acht von zu Hause fortgeschickt wurden, mit ihren eigenen Kindern dasselbe. Das sagt etwas Wichtiges über die menschliche Natur aus. Oder über die Briten.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich vier Jahre lang ununterbrochen gelitten habe, aber jedes Mal, wenn ich meine Erinnerungen an das Kloster hervorkrame, überwältigt mich Kummer.
Wenn ich in die Ferien heimfuhr, erschien mir das Ende so fern, dass ich mich wie befreit fühlte. Sechs Wochen. Schon vier Wochen. Wenn jeder Tag endlos lang war, dann war selbst eine Woche ein Meer von Zeit.
Zwei Jahre war mein Bruder noch zu Hause, er bekam Fernunterricht und setzte sich mit Geduld und Zähigkeit dagegen durch, Baby oder Roo gerufen zu werden. Er bestand darauf, dass man ihn Harry nannte, und entwickelte sich zu einem außerordentlich sportlichen Jungen. Zwar ist Baby in meinen frühen Erinnerungen ein liebes, anschmiegsames Kind, das stets auf irgendeinem Schoß sitzt, zumeist auf meinem, aber in späteren Szenen ist er ständig in Bewegung, saust mit seinem Roller den Berg hinunter, oder danach, ohne zu bremsen, mit dem Fahrrad, sitzt in einer schrecklich hohen Baumkrone, schlägt Kricketbälle übers Dach und kann laufen wie eine Antilope. Er war wie alle Jungen der Gegend ein magerer, zäher, sonnenverbrannter Bursche mit ständig aufgeschlagenen Knien, zerrissenen Shorts und Augen, die von der vielen Sonne entzündet waren, denn er war von morgens bis abends an der frischen Luft. Meine Mutter las uns zu häufig
Peter Pan
vor, und jedes Mal, wenn Peter zurückkehrte, das Fenster geschlossen vorfand und wieder davonflog, brach ihre Stimme. »Ach, komm schon, meine Gute«, redete mein Vater ihr zu, »so schlimm ist es doch gar nicht.«
Aber für sie war es so schlimm. Nichts von dem, was sie sich gewünscht hatte, würde wahr werden. Sie konzentrierte ihre ganze Energie auf ihre Kinder, vor allem auf ihren süßen kleinen Sohn. Doch er schien – fast von einem Tag auf den andern – nichts mehr von ihr wissen zu wollen. Es ist interessant, wie unterschiedlich Kinder rebellieren und sich selber schützen. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der ich nicht gegen meine Mutter anging. Später lehnte ich mich auch gegen meinen Vater auf. Aber mein Bruder lehnte sich nie auf. Er lächelte höflich, wenn meine Mutter versuchte ihn dazu zu bringen, dies oder jenes zu essen, anzuziehen, zu denken, die Kinder von den anderen Farmen für ordinär zu halten oder nicht in diesem »zweitklassigen Land« bleiben zu wollen. Er machte zwar, was er wollte, aber er hielt sich stets an die von ihr gesetzten Grenzen. Er ging nach Ruzawi, einer Eliteschule nach englischem Vorbild, und später gegen seinen Willen zur Marine. Erst als er heiratete, rang er sich zu einer eigenständigen Entscheidung durch. Heute sehe ich sein Verhalten als instinktiven passiven Widerstand.
Ich flehte
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