Unter der Haut (German Edition)
und letzte – Puppe. Meine Mutter ließ die Weihnachtsgeschenke von den Army & Navy Stores kommen, nicht ohne uns ein ums andere Mal daran zu erinnern, dass wir uns das eigentlich nicht leisten könnten. Beide Geschenke kosteten genau ein Pfund – ein Vermögen. Die Dampflokomotive für meinen Bruder, in deren Kessel man Feuer machte und die dann Dampf ausstieß und ein Stück fahren konnte, wurde einen halben Tag lang wie ein Wunder bestaunt, aber dann zog es ihn wieder zurück in den Busch. Meine Puppe war so groß wie ein Baby, hatte blaue Schlafaugen und machte »mäh« wie ein Schaf, wenn man sie nach vorne beugte. Ich zog sie tagelang an und aus, und all die alten Babysachen hatten ein drittes Leben, und ich umschlang und wiegte das kalte, steife Ding und sang ihm Lieder vor. Dann vergaß ich die Puppe. Vergaß die Truhe. Schon bald vertrieb eine neue Leidenschaft die Sehnsucht nach einem Geschwisterchen, und ich malte der Puppe einen schwarzen Bubikopf mit Schmachtlocken, einen knallroten Mund und rote Fingernägel an. Ich hatte angefangen, mich mit meiner Mutter darüber zu zanken, was ich anziehen durfte. Sie nähte alle meine Kleider. Sie nähte sie gut. Aber sie nähte Modelle, die mir zu kleinkindhaft waren.
Die Babysachen lagen herum, wurden zu Wischlappen degradiert, verschwanden: Wenn man sie heute ausstellte, würde keiner glauben, dass ein ganz normales Baby so prächtige Gewänder getragen hat.
Unter der Schublade mit den Babysachen war die Lade, in der die Abend- und Nachmittagskleider meiner Mutter in parfümiertem Seidenpapier lagen. Es dauerte nicht lange, bis man die Kleider der zwanziger Jahre scheußlich fand. »Wie konnte man diese hässlichen Sachen tragen – keine Taille, kein Busen.« Unter diesen Kleidern lag die dazugehörige Unterwäsche, Hemdhosen aus Crêpe de Chine und breite Streifen aus festem Stoff, die einen flachen Busen machen sollten. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, in dem der Geschmack – weil plötzlich irgendein neuer Wind wehte – wieder umschlug. Es war Anfang der fünfziger Jahre, ich saß oben in einem Bus und sah eine junge Frau die Bayswater Road entlanggehen, in einem grauseidenen taillenlosen Hemdblusenkleid, das ohne Weiteres aus dem Schrank ihrer Mutter hätte stammen können. Oh, ist das aber schön, dachte ich und sah, wie die weiblichen Fahrgäste im Bus die Hälse reckten:
Mensch, wo hat sie das gekauft?
Der kurze, glatte Rock eines mattgrünen seidenen Abendkleides war mit Bronzetressen und Spitzen aus der gleichen Seide verziert. Die Tressen verströmten einen kräftigen Metallgeruch, der mir wie das Salz im Meer zu Kopfe stieg. Ich vergrub mein Gesicht in dem Kleid und stellte mir die Welt vor, in der man solche Kleider trug, und zwar nicht als »Verkleidung«. Bald nahmen wir diese wunderhübschen Kleider zum Spielen, und ich frage mich, was meine Mutter wohl beim Anblick der kleinen Farmmädchen empfand, die in den Kleidern, die sie nie tragen würde, herumstolzierten und mit hohen, aufgeregten, affektierten Stimmen die Förmlichkeiten der Erwachsenen parodierten.
In der dritten Schublade lagen die Smokingjacke meines Vaters, sein Frack, die gestärkten weißen Hemden, seine Paradeuniform. Er hatte keine gemischten Gefühle. »Gott sei Dank muss ich die Sachen nie wieder anziehen«, pflegte er mit einem rebellischen Blick in Richtung auf meine Mutter zu sagen, denn das hieß: »Gott sei Dank werden wir nichts mehr mit dem Leben zu tun haben, das du dir wünschst.«
In der vierten Schublade lagen ein Schurz, eine Kelle, ein Paar weiße Damenhandschuhe und einige Bücher mit seltsamen Mustern auf den Einbänden. Dafür hatte mein Vater nur Verachtung übrig. Er hatte sich vor langer Zeit einmal den Freimaurern angeschlossen gehabt, in England bei der Bank. »Was für eine Farce, was für ein Zirkus. Aber wer kein Mitglied war, wurde nicht befördert. Damit hatten wir in Persien wenigstens nichts zu tun. Bei der Polizei soll es das gleiche Lied sein. In der Bank gab man jedem, der kein Mitglied war, einen kleinen Wink. Hatten Sie an den Posten des Filialleiters in Cirencester gedacht, Tayler? Bei der königlichen Familie auch. Ein Fisch fängt eben zuerst am Kopf an zu stinken. Gott sei Dank, dass ich damit nichts mehr am Hut habe.«
Das unterste Fach war bis oben hin voll mit Brokatschuhen, silbernen und goldenen Schuhen, schwarzen Satinschuhen mit Strassschnallen; Abendtäschchen, einem braunen edlen Hut aus glänzendem Satin
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