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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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fragten mich ein ums andere Mal, ob ich denn nicht wisse, wie arm sie seien, wie wenig sie es sich leisten könnten, die Dinge zu ersetzen, die in der Vorratshütte gewesen seien – die Behälter mit Mehl und Zucker, das Maismehl, die Lebensmittel, die Säcke mit Hühnerfutter, die eingelegten Eier, die Speckseiten? Es würde sie mindestens hundert Pfund kosten, das alles zu ersetzen. Aber ich wusste natürlich, wie arm wir waren, Geld, Geld, Geld, es wurde ständig über Geld geredet. Ich konnte ihnen nicht verständlich machen, dass ich lediglich den Unterstand für die Hunde hatte abbrennen wollen, nicht die ganze Hütte: Sie konnten schlicht nicht glauben, dass ich zu solcher Dummheit fähig war. Zur Strafe sollte ich einen Monat lang keinen Kuchen essen. Mein Vater meinte gereizt, das sei absurd, wie sollte ich das bittere Ausmaß meiner Tat begreifen, wenn es in Nachmittagskuchen aufgerechnet werden würde. Mit dem Kuchen gab ich ihm recht: Es war ein enttäuschender Ausgleich, etwas Albernes, und tatsächlich geriet die Strafe, lange bevor der Monat um war, in Vergessenheit. Nie vergessen habe ich dagegen, wie sich die Obsession meines Vaters, seine Angst vor Feuer, mit ein paar Worten auf mich übertrug, eine andere Form annahm und von mir Besitz ergriff. Worte haben in der Tat Flügel.
    Und wieder lautete die Botschaft, dass ein Kind nicht in der Lage ist, alle Möglichkeiten zu bedenken, sondern an irgendetwas Unvorhergesehenem scheitern wird. Ich muss, ich muss erwachsen werden, bald erwachsen werden … Aber das Erwachsensein und die Freiheit lagen in unendlicher Ferne, denn ich war noch auf dem Stand, wo das Ende eines Tages morgens kaum zu ahnen war.
    Der Hauptgrund, weshalb eine Autobiografie nicht wahr sein kann, liegt in der subjektiven Zeiterfahrung. Das Buch schreitet vom ersten bis zum letzten Kapitel gleichmäßig über die Jahre fort. Selbst wenn man mit Kunstgriffen arbeitet wie Rückblenden oder wie bei
Tristram Shandy
, gibt es keine Möglichkeit, den Unterschied zwischen Kinder- und Erwachsenenzeit – oder das unterschiedliche Zeittempo in den verschiedenen Phasen des Erwachsenenlebens – mit Worten zu vermitteln. Je nachdem, ob man unter dreißig oder über sechzig ist, empfindet man den Zeitraum eines Jahres völlig anders.
    Wissenschaftler, die versuchen, uns die Bedeutung des Menschen begreiflich zu machen, sagen etwa: »Wenn wir uns die Geschichte der Erde als einen Tag mit vierundzwanzig Stunden denken, dann erscheint der Mensch erst in der letzten Minute dieses Tages.« Ähnlich müssten nach meinem Empfinden in einer Lebensgeschichte, die der tatsächlichen Zeiterfahrung gerecht werden soll, die ersten zehn Jahre siebzig Prozent des Buches einnehmen. Bei achtzig Prozent wäre man fünfzehn. Bei fünfundneunzig Prozent ungefähr dreißig. Der Rest ist ein Galopp – Richtung Ewigkeit.
    Mir kommt der Gedanke an das Ungeborene im Mutterleib. Der Fötus macht die gesamte Evolution durch: vom Fisch über den Vogel zum Säugetier und dann zum Menschen. Erlebt er auch die
Zeit
der Evolution? Kann es sein, dass das arme Geschöpf gleichsam Ewigkeiten durchlebt? Ein Albtraum. Ein kaum zu ertragender Gedanke.
    Mein Bruder war acht, als er nach Ruzawi, der Eliteschule nach englischem Vorbild, kam. Wieder sorgte meine Mutter dafür, dass er ein Stipendium erhielt. Unser Alltag in den beiden Schulen hätte sich nicht deutlicher voneinander unterscheiden können, aber in dem Moment, da die Ferien losgingen, war wieder alles beim Alten. Wir standen häufig mit der Sonne auf, liefen in den Busch und hatten bis zum Frühstück oft schon etliche Meilen zurückgelegt, genau wie mein Vater, der ebenfalls so früh unterwegs war und noch vor dem Frühstück ein paar Stunden unten auf den Feldern mit den »Boys« oder mit Old Smoke verbrachte. Manchmal waren wir zwei von morgens bis abends unterwegs, mit ein paar Butterbroten als Proviant. Wir tranken aus den Flüssen, sagten den Eltern aber nichts davon, weil sie Angst vor Bilharziose hatten. Oder Harry begleitete meinen Vater und machte sich auf allerlei Arten nützlich. So lernte er mit acht Jahren Auto fahren, als er noch im Stehen bremsen oder die Kupplung treten musste. Ich zog mich dann häufig in mein Zimmer zurück und las. Und las. Ich lag auf dem Bett und las. Oft aß ich beim Lesen, meistens Apfelsinen. Wir bestellten die Apfelsinen von den Zitrusplantagen in Sinoia, einen Sack im Gegenwert von einem großen Rinderbraten. Viele

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